Commissario Tron 5: Requiem am Rialto
Buße und
Süßigkeit dar.
Ein
weißgekleideter Chorknabe erschien und schritt vor einem
alten Priester her, der sich langsam dem Altar näherte. Vor
den Stufen des Altars kniete der Knabe nieder und sprach mit so
viel Ehrfurcht die Antworten des Psalms, dass Tron, der wenig
religiöse Neigungen hatte, unwillkürlich fasziniert war.
Dann folgte der Priester dem Ton des Kindes und gab jedem Wort ein
Gewicht, ergriffen wie bei seiner ersten Messe. Nachdem er
das confíteor vor der Gemeinde
gebetet hatte, stieg der Priester die Stufen des Altars empor. Die
Messe begann, und Tron sah, wie das Kind in einem kleinen Schauer
der Erregung die Wein- und Wasserkännchen küsste, bevor
es sie dem Priester reichte. Diese ehrwürdige Liturgie mit
ihren seit Jahrhunderten existierenden Ritualen war so weit von der
modernen Welt der Dampfschiffe, Gasbeleuchtung und
Telegrafíe entfernt, dass Tron ein paar Augenblicke lang
völlig vergessen hatte, was ihn eigentlich in diese Kirche
geführt hatte. Oder: wer ihn in diese Kirche geführt
hatte. Denn obwohl er die Anwesenden aufmerksam musterte, hatte er
Pater Francesco im Dämmerlicht des Kirchenraumes noch nicht
entdeckt. Ob die Vermutung Juliens, dass der Pater mit ihm
über das geheime Privatleben des Comtes de Chambord sprechen
wollte, tatsächlich zutraf? Bossi, den Tron nach seiner
Unterredung mit Julien in der Questura gesprochen hatte,
bezweifelte es. Tron war ebenfalls skeptisch, aber er würde es
bald erfahren.
Ein halbe Stunde
später, nach dem ite missa est und dem Schlusslied,
stand Tron unter dem Portikus der Kirche und wartete auf Pater
Francesco. Der Mann in blauem Radmantel, der die Kirche als Letzter
verließ, musste es sein. Da es regnete, trat der Pater nicht
sofort auf den Campo San Giacomo hinaus, sondern klappte einen
großen schwarzen Regenschirm auf. Tron sah dem Pater zu, und
als dieser den Schirm über den Kopf hob, trafen sich ihre
Augen. Das kam einem Ansprechen gleich, worauf der Pater stutzte
und die Augenbrauen fragend in die Höhe zog.
Tron deutete eine
knappe Verbeugung an. «Pater Francesco?»
Der faltete den
Regenschirm wieder zusammen und trat einen Schritt in den Portikus
zurück. «Ja, mein Sohn?»
Dass der Pater
ihn mein
Sohn nannte, hatte einen Einschlag ins
Alberne, fand Tron. Andererseits passte diese Anrede zum strengen
Gesichtsausdruck des Geistlichen.
«Mein Name ist
Tron», sagte Tron. Und setzte hinzu: «Commissario
Tron.»
Wenn Pater Francesco
überrascht war, von einem Commissario der venezianischen
Polizei angesprochen zu werden, zeigte er es nicht. «Was kann
ich für Sie tun, Commissario?»
«Es geht um die
Mordserie der letzten zwei Wochen, Pater Francesco. Ich nehme an,
Sie wissen Bescheid.»
«Allerdings.» Der
Pater schüttelte entsetzt den Kopf. «Dieser Mann scheint
ein wahres Monster zu sein.»
Er hatte einen
leichten französischen Akzent, sein Italienisch konnte
allerdings auch als Mailänder Dialekt durchgehen. Er war
mittelgroß, hatte klare Gesichtszüge und dichtes,
dunkles Haar. Tron fand, dass das einzig Auffällige an seiner
Erscheinung die Augen waren. Sie waren groß, dunkelbraun,
wirkten fast wie bei einem Kind und hatten einen
eigentümlichen Ausdruck, in dem sich Strenge und Naivität
mischten. Ansonsten war der Pater völlig
unauffällig.
«Verstehe ich
Sie richtig», sagte Pater Francesco, nachdem Tron ihm den
Vorfall der vergangenen Nacht geschildert hatte, «dass der
Maskierte, den Sie für den Täter halten, sich dem
Ispettore in eindeutiger Weise genähert hat?»
«So ist
es.»
«Und dass er
sich, als der Ispettore ihn verhaften wollte, in unseren Garten
geflüchtet hat?»
«Es sieht ganz
danach aus, Hochwürden.»
«Ich kann Ihnen
nicht ganz folgen, Commissario. In der Gazzetta di Venezia war zu lesen, dass
dieser Mann seine Unaussprechlichkeiten an Frauen
verrichtet.»
Tron nickte.
«Deshalb trug der Ispettore gestern Abend auch keine
Uniform.»
«Er war in
Zivil?»
«Er trug ein
Promenadenkleid», sagte Tron. «Wir hatten beschlossen,
ihn als Lockvogel einzusetzen.»
Der Pater schwieg. Er
hatte den Kopf abgewandt, sodass sein Gesichtsausdruck nicht zu
erkennen war. Schließlich fragte er: «Und was habe ich
mit der Angelegenheit zu tun?»
«Vielleicht
haben Sie gestern Nacht etwas beobachtet.»
«Wann hat sich
der Vorfall abgespielt?»
«Gegen zehn
Uhr.»
«Mein
Zimmer», sagte der Pater langsam, «geht auf den Rio
dell'Orso hinaus. Wenn sich irgendetwas im Garten
Weitere Kostenlose Bücher