Commonwealth-Saga 1 - Der Stern der Pandora
diesen Luftströmungen haben schon jetzt eine Geschwindigkeit von zweihundert Stundenkilometern.«
Die digitalen Windanzeigen wurden undeutlich; so schnell rasten die Ziffern durch das Display. Wenn das so weiterging, würde die Hauptfront des Sturms in weiteren vierzig bis fünfzig Minuten eintreffen, und das waren die Winde, auf die Justine wartete. Wenn sie jetzt schon abhob, würde der Hyperglider einfach nur in die Flanke des Mount Herculaneum getrieben werden.
Die Funkfrequenzen waren voll mit schlechten Witzen und nervösem Bravado. Justine verhielt sich schweigsam, obwohl das Zuhören sie auf eigenwillige Art auch tröstete. Es vertrieb das Gefühl von Isolation.
Wolken rasten über den Himmel und sanken nach und nach immer tiefer. Sie grenzten die aufgehende Sonne aus, senkten die Helligkeit bis auf ein düsteres Zwielicht, das Justine gerade noch den Blick auf die schweren Regenböen ermöglichte, die sich in der Ferne entluden. Der Fels rings um den Hyperglider begann zu glänzen, als er von einem dünnen Wasserfilm überzogen wurde.
»Der Wind erreicht jetzt die Zweihundert!«, rief Estella. In ihrer Stimme mischten sich Angst und Erwartung. »Ich löse jetzt gleich die Verankerung. Wir sehen uns auf der anderen Seite, Darling!«
»Ich komme auch!«, rief Justine zurück. Der Rumpf erzitterte und schüttelte sich und gab ein stetes, hochtönendes Brummen von sich: Das Heulen des Orkans durchdrang selbst die dicke Cockpitisolierung. Die Displayschirme vor Justine zeigten dank der Vibrationen nur noch undeutlich verschwommene bunte Linien und Bänder aus grellen Farben. Justine musste sich fast vollständig auf die grundlegenderen Informationen in ihrem virtuellen Sichtfeld verlassen. Draußen raste ein undurchdringlicher grauer Nebel vorbei, und die Canyonwände waren längst nicht mehr zu erkennen.
Dann war der Zeitpunkt gekommen. Die Windgeschwindigkeit am Grunde des Stakeout Canyon betrug mehr als einhundertsechzig Stundenkilometer. Auf dem Radar sah Justine, dass die Sturmfront nun am Hang des Mount Herculaneum genau vor ihr hochkochte, und das war der kritische Faktor. Diese Winde mussten sie eine weite Strecke tragen. Ohne sie würde es nur ein kurzer Trip mit einem sehr abrupten Ende werden.
Justine legte die Hände auf die I-Spots der Konsole, und ihre Finger krümmten sich um die Griffe. Plyplastik floss um sie herum und sicherte sie für den bevorstehenden turbulenten Flug. Die OCTattoos an ihren Handgelenken vervollständigten die Verbindung zwischen den I-Spots und ihren Nervenbahnen und verbanden sie direkt mit dem Onboard-Array. In ihrer virtuellen Sicht erschienen virtuelle Hände. Sie hatte ihnen lange, schlanke Finger mit leuchtend neonblauen Ringen und grün lackierten Nägeln verliehen. Mitten zwischen den Icons materialisierte ein Joystick, und Justine umklammerte ihn mit einer virtuellen Hand. Die andere Hand tippte Icons an und initiierte einen letzten Systemcheck. Alles war grün, und so befahl sie dem Onboard-Array, die Flügel auszufahren.
Die Plyplastik-Stummel stülpten sich aus, wurden länger und nahmen die Umrisse dicker kleiner Deltaflügel an. Die Vibrationen verstärkten sich dramatisch, als der Wind sie erfasste. Die Verankerungen wurden bis an die Grenzen ihrer Belastbarkeit auf die Probe gestellt. Justine betete, dass die karbonverstärkten Titananker, die von ihrem Supportteam fünfzig Meter tief in den nackten Fels getrieben worden waren, die nächsten fünf Minuten überleben würden.
Ein kleiner Dämon in ihrem Innern sagte: Letzte Chance, den Kopf einzuziehen und am Leben zu bleiben.
Justine bewegte ihre virtuelle Hand und drückte auf das Symbol für die Bugverankerung. Die Riegel lösten sich, und sie wurde augenblicklich heftig von einer Seite zur anderen geschleudert, als der Hyperglider von der Gewalt des Sturms durchgeschüttelt wurde. Eine instinktive Reaktion aus dem implantierten Pilotentraining kam ihr zu Hilfe. Justine drehte den Joystick, und die Flügel bogen sich mehrere Grad nach unten. Dann tippte sie das Icon für die hintere Verankerung an, und die beiden Seile spulten sich ab. Der Hyperglider wurde zwanzig Meter hoch in die Luft gerissen, während er sich immer noch wie verrückt schüttelte, als könne er es nicht erwarten, endlich die letzten Fesseln abzuschütteln. Justine unterbrach den Abspulvorgang und begann damit, ihre Kontrollflächen zu testen. Das Heck des Hypergliders verwandelte sich in eine vertikale Stabilisierungsflosse.
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