Commonwealth-Saga 3 - Der entfesselte Judas
war mehrmals eingesetzt worden. Die Evakuierung war ein Unternehmen von heroischen Dimensionen gewesen, erbarmungslos und grausam für jeden Betroffenen, angefangen bei den Managern, die sich plötzlich einer Katastrophe gegenübersahen, die sich niemand je hätte vorstellen können, geschweige denn, dass sie dafür trainiert gewesen wären, bis hin zu dem Stationspersonal, das ganze Planetenbevölkerungen durchschleusen musste, während über ihren Köpfen nukleare Waffen explodierten und ihre Häuser in die Steinzeit zurückgebombt wurden. Irgendwie hatte es trotzdem funktioniert. Nigel war niemals stolzer auf seine Leute gewesen.
Zu Anfang, als noch das reine Chaos geherrscht hatte, waren die Leute von den Lost 23 zu Fuß durch die Gateways gelaufen, doch nach wenigen Stunden hatte CST die wichtigsten Verbindungen wieder hergestellt und Evakuierungszüge eingesetzt. Sie hatten die Flüchtlinge reihum auf den Phase-Eins- und den Phase-Zwei-Welten abgeladen, wo sie den einheimischen Regierungen überlassen wurden. Niemand bat um Genehmigung, bevor Menschen aus den unterschiedlichsten kulturellen und ethnischen Gruppen zusammengesteckt und auf unvorbereiteten Welten ausgesetzt wurden, die sich um ihre eigene Zukunft sorgten. CST handelte nach praktischen Gesichtspunkten, nicht nach Politik.
Auf einen Zug zu warten ging schneller, als zu Fuß durch ein Gateway zu marschieren, insbesondere angesichts der Scharen von Menschen, die bereits genau dies versuchten und dabei sich selbst und die Züge gefährdeten, die noch verkehrten – was sie selbstverständlich nicht aufgehalten hatte.
Aus dem Büro des Managers von Narrabri sah Nigel eine Menschenmasse, die vor den gewaltigen Gebäuden des Wartungsbereichs durcheinander rannte. Reparaturen und normale Wartungsarbeiten waren gegenwärtig auf Wessex unmöglich. Jeder freie Quadratmeter wurde ausgefüllt von improvisierten Flüchtlingslagern und Behelfsküchen. Trotz aller hastig herbeigeschafften Hilfsgüter waren die sanitären Zustände alles andere als optimal; doch wenigstens hatten die Menschen für die Nacht ein Dach über den Köpfen. Nicht, dass in den Hangars Raum für alle gewesen wäre: Tausende weiterer Flüchtlinge campierten draußen in den Terminals und futterten sich durch jedes Fastfood-Lokal auf dem Planeten. Viele hatten leer stehende Lagerhäuser besetzt. Nach besten Schätzungen seitens CST und amtlicher Stellen betrug die Zahl der Flüchtlinge in der Station nach wie vor mehr als zwei Millionen. Sozialarbeiter von fünfzig verschiedenen Welten und Freiwillige aus Narrabri kümmerten sich um Kinder, die von ihren Eltern getrennt worden waren. Mehr als dreißig Prozent von ihnen waren Waisen und in tiefem Schock. Inmitten des Gedränges ereigneten sich Dinge von unglaublicher Nächstenliebe und stillem Heldentum, die trotz der aufdringlichen, allgegenwärtigen Medien niemals bekannt werden würden.
»So etwas habe ich seit Anfang des einundzwanzigsten Jahrhunderts nicht mehr gesehen«, sagte Nigel.
»Ja. Ich erinnere mich, wie es damals in Afrika und Asien gewesen ist«, sagte Alan Hutchinson; »aber das hier ist nicht ganz das Gleiche.«
Nigel warf einen fragenden Blick zum dritten Dynastieführer im Büro. Heather Antonia Halgarth starrte schweigend und ausdruckslos auf die erschöpften Flüchtlinge hinunter.
»Wir unternehmen alles, was in unserer Kraft steht«, erwiderte Nigel. »Es sollte nicht länger als zwei oder drei weitere Tage dauern, bis wir all die Flüchtlinge weggeschafft haben.«
»Aber wohin schaffen wir sie?«, erkundigte sich Hutchinson. »Meine Senatoren hören bereits die ersten Beschwerden. Einige Welten sind der Meinung, man hätte ihnen mehr Flüchtlinge aufgebürdet, als sie verkraften können.«
»Es mag hart sein«, schnappte Nigel zurück, »aber wir können sie nicht auf Phase-Drei-Welten absetzen; dort gibt es nicht die erforderliche Infrastruktur. Die Welten aus Phase Eins und Phase Zwei müssen damit fertig werden, ob es ihnen nun passt oder nicht.«
»Aber nicht die Erde«, murmelte Heather.
Nigel grinste sie nervös an. Sie näherte sich dem Zeitpunkt der nächsten Rejuvenation und war im biologischen Alter von Mitte fünfzig. Das machte sie zu einer imposanten Persönlichkeit, einer Frau mit rötlichem, allmählich lichter werdendem Haar und den ersten Falten auf den Wangen. In diesem Stadium ihres Lebens erschien sie ihm immer wie eine Hohepriesterin: still, weise, wissend und vollkommen
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