Con molto sentimento (German Edition)
wusste, dass es nicht leicht war und auch ihn hatte es im letzten Jahr einiges an Überwindung gekostet den Leichnam seiner Großmutter aufgebahrt zu sehen. Damals, als er sie in ihrem Bett, in ihrer angestammten Umgebung gesehen hatte, nur wenige Stunden nach ihrem Tod, da war es ihm leicht gefallen, aber gewaschen und hergerichtet für die Beerdigung, das war etwas völlig anderes gewesen. Das war nicht mehr ›sie‹ gewesen.
Doch er war der Meinung, dass es trotzdem sehr wichtig war die Verstorbenen noch einmal zu sehen. Es nahm die Angst, entmystifizierte den Prozess. Der Tod gehörte zum Leben, so schrecklich es war. Früher war es natürlicher gewesen, die Leute waren in der Regel zu Hause unter ihren Liebsten gewesen, als sie diese Welt verlassen hatten. Alexis hielt dies nicht für das Schlechteste, allemal besser, als in einem Krankenhaus oder Pflegeheim zu sterben, wo man nur von Fremden umgeben war, die hier bloß ihren Job ausübten.
Alexis streckte Patrice die Hand hin, zögernd gehorchte der und ließ sich dann von ihm in die Höhe ziehen. Man hatte den Leichnam von Patrices Mutter in ein kleines Krankenzimmer gebracht, ein Pfleger führte sie hin.
Ihr Körper war bis zum Hals mit einem Tuch abgedeckt, mit Sicherheit würde man darunter die Schnitte der Operation sehen. Natürlich vernäht, aber trotzdem kein Anblick auf den Alexis besonders scharf war. Vor allem nicht, weil er kein Blut sehen konnte und es wohl Patrice auf Höchste verstören würde, wenn er nun einfach umklappte und ohnmächtig wurde.
Ihr Gesicht, ihre Haare, es sah alles so normal und entspannt aus. Aber natürlich war die Haut nicht mehr rosig, sondern blass und wächsern.
Patrices Hand umklammerte Alexis‘ Finger wie einen Schraubstock und er wagte sich kaum einen Schritt näher an das Bett heran.
»Was passiert jetzt mit ihr?«, wollte Patrice wissen. »Bleibt sie hier?«
»Nein, wir bringen sie für heute Nacht in die Pathologie.«
Das war auch keine angenehme Vorstellung, dass man in einer dieser Kühlkammern eingelagert wurde, neben anderen Toten, die womöglich am nächsten Tag noch seziert wurden. So etwas war bei Madame Leclerk ja nicht notwendig und doch gab es würdigere Orte einen Toten aufzubahren, dachte Alexis.
Patrice stand noch immer wie angewurzelt da und schien sich nicht entschließen zu können, ob er seine Mutter ein letztes Mal berühren sollte oder nicht.
»Du musst nicht«, meinte Alexis. Er konnte sich ziemlich genau denken, welche Gedanken Patrice in diesem Augenblick umtrieben.
Patrice sah ihn an und nickte: »Aber irgendetwas... man muss doch irgendetwas tun. Ich kann doch jetzt nicht einfach wieder gehen.«
»Nehmen Sie sich alle Zeit, die Sie brauchen«, riet der Pfleger.
Patrice schwieg wieder und Alexis hatte irgendwann für sich angefangen das Vaterunser für die Verstorbene zu beten. Er wusste nicht, ob sie überhaupt religiös gewesen war, doch schaden konnte es ganz sicher nicht.
Als er sich dabei ertappt hatte, hielt er inne und begann noch einmal von vorn. Dieses Mal betete er laut. Er konnte es nicht auf Französisch aufsagen, doch Patrice und der Pfleger schienen genug Englisch zu verstehen, dass sie am Ende ›Amen‹ sprachen.
Patrice schluchzte bei den Zeilen laut auf und nun kullerten seine Tränen auf das Laken, mit dem der Körper seiner Mutter bedeckt war. Die Tropfen bildeten dunkle Kreise auf dem weißen Stoff. Alexis stand neben ihm und legte ihm eine Hand auf die Schulter. Mehr konnte er nicht tun.
»Können Sie ihm etwas geben, dass er etwas ruhiger wird und heute Nacht schlafen kann?«, meinte er an den Pfleger gerichtet, als sie eine Viertelstunde später wieder nach draußen auf den endlos langen Krankenhausflur traten. Er musste Patrice wie eine leblose Puppe führen, der Junge war zwar fast schon apathisch, doch er zitterte auch wie Espenlaub.
Alexis musste nicht weiter ausführen, was er genau damit meinte. Der Mann verstand auch so und eilte zum nächsten Arzt, um die entsprechenden Medikamente verschreiben zu lassen.
Wieder in ihrer Wohnung dirigierte Alexis Patrice auf die Couch. Er ließ es sich widerstandslos gefallen, dass ihm Alexis die Jacke und Schuhe auszog und ihm dann eine der Pillen, nebst einem Glas Wasser, in die Hand drückte.
»Soll ich das wirklich nehmen?«, Patrice musterte die Tablette auf seiner Handfläche mit einer gewissen Skepsis. Die Pille fiel auf
Weitere Kostenlose Bücher