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Confusion

Confusion

Titel: Confusion Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neal Stephenson , Nikolaus Stingl
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anderes als den einsamen Turm einer Kathedrale ausmachen zu können, der über die Festungsmauern hinausragte. Doch diese Stadt war, wie es schien, mühevoll an einen steilen Berg geklebt worden, dessen Abhänge sich unmittelbar aus der Hochwasserlinie erhoben. Sie wirkte ein bisschen wie ein keilförmiges Stück Paris, das irgendein reinlicher Gott hochkant gestellt hatte, um endlich alles Stinkende und Faulige daraus ablaufen zu lassen. Am höchsten Punkt, dort, wo man die Brechstange oder den Greifhaken vermutet hätte, mit dessen Hilfe der hypothetische Gott dieses Wunder vollbracht hätte, befand sich stattdessen eine weitere Festung – diesmal in einer sonderbaren maurischen Bauweise, umgeben von ihrer eigenen achtseitigen Mauer, die, wie konnte es anders sein, von noch wuchtigeren Kanonen strotzte; außerdem gab es hier Mörser, um Bomben aufs Meer hinauszuschleudern. Sie alle wurden auch abgefeuert – ebenso wie sämtliche Geschütze, die ihre Geschosse aus den verschiedenen zusätzlichen Festungen, Bastionen und Geschützstellungen rund um die Stadtmauer herauskatapultierten.
    In den seltenen Pausen zwischen dem dumpfen Krachen der Sechzigpfünder konnte er von allen Seiten gepfefferte Salven aus Pistolenund Flintenläufen hören, und jetzt (da er allmählich auch kleinere Dinge bemerkte) sah er, dass aus den Mauerkronen eine Art qualmender, dichter Rasen wuchs – nur, dass dieser Rasen nicht aus Grashalmen, sondern aus Menschen bestand. Manche trugen schwarze Kleidung, manche weiße, aber die meisten waren farbenfroher gewandet: bauschige weiße Hosen mit Seidenbändern in kräftigen Farben als Gürtel, fröhlich bestickte Westen – oft mehrere davon übereinander – und Turbane oder rote, zylindrische Hüte.
    Der Mann mit dem exotischen Johannes – dunkelhäutig, das gewellte schwarze Haar sonderbar frisiert und mit einem gestrickten Käppchen versehen – raffte sein Gewand zusammen und watete hinaus, um zu sehen, ob mit ihm alles in Ordnung war. Er hielt sich nämlich immer noch die Hände an den Kopf, zum einen, um die Blutung aus den Schürfwunden zu stillen, die er sich an den Bernakelmuscheln zugezogen hatte, und zum anderen, um zu verhindern, dass der Krach ihm die Schädeldecke aufs Meer hinausblies. Der Mann schaute auf ihn hinab, sah ihm in die Augen und bewegte dabei die Lippen. Seine Miene war ernst, und dennoch wirkte er leicht amüsiert.

    Er griff nach der Hand dieses Burschen und zog sich an ihr hoch. Die Hände beider Männer waren so schwielig, dass sie damit Musketenkugeln in der Luft hätten fangen können, und ihre Knöchel bluteten oder waren frisch verschorft.
    Er war aufgestanden, weil er sehen wollte, was das Ziel dieser ganzen Schießerei war und wie es überhaupt noch existieren konnte. Im Hafen war eine Flotte von drei oder vier Dutzend Schiffen aufgefahren, die (nicht gerade überraschend) alle ihre Geschütze abfeuerten. Allerdings feuerten nicht etwa diejenigen, die wie holländische Fregatten aussahen, auf die, die wie heidnische Galeeren wirkten, oder umgekehrt, noch schienen sie auf die Schwindel erregende weiße Stadt zu schießen. Alle Schiffe, sogar die europäischer Bauart, führten die Halbmondflagge.
    Schließlich blieb sein Blick an einem Schiff hängen, dessen Besonderheit darin bestand, dass es als einziges Schiff oder Gebäude weit und breit nicht in alle Richtungen Rauch und Feuer spuckte. Es war eine Galeere, ganz im mohammedanischen Stil, aber außerordentlich fein, jedenfalls für jemanden, der unzüchtiges Zierwerk ansprechend fand – die funktionslosen Teile waren ein Haufen mit Blattgold versehener Tand, der, selbst durch die vorbeiziehenden Schwaden aus Pulverdampf hindurch, in der Sonne glänzte. Ihr Lateinsegel war eingeholt worden, und sie bewegte sich mit Ruderkraft vorwärts, jedoch auf majestätische Weise. Er ertappte sich dabei, wie er die Ruderbewegungen etwas zu genau in Augenschein nahm und die Gleichförmigkeit der Ruderschläge mehr bewunderte, als für einen Vagabunden bei Verstand gesund war, was die Fragen aufwarf: War er immer noch ein Vagabund, und war er wirklich bei Verstand? Er erinnerte sich dunkel, dass er einen Teil seines elenden Lebens in der Christenheit verbracht hatte und im Verlieren seines Verstandes an die Syphilis schon ziemlich weit gediehen war – aber jetzt schien es ihm gut zu gehen, abgesehen davon, dass er sich nicht erinnern konnte, wo er war, wie er dorthin gekommen war und was sich in jüngster Zeit um ihn

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