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Confusion

Confusion

Titel: Confusion Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neal Stephenson , Nikolaus Stingl
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triefend nasse, verängstigte arme Teufel, ohne darüber nachzudenken, bestimmte Routinetätigkeiten verrichteten. Auch Jack hatte sich bei seiner Reise um die Welt ein paar derartige Instinkte zugelegt, und das erklärte vermutlich, wie er den nächsten Tag verbrachte. Das Wetter war gut; der Sturm tobte in seinem Inneren. Als er wieder klar im Kopf wurde, war ein ganzer Tag vergangen, und wie es schien, hatte er in der Zwischenzeit auch gegessen, getrunken und sich erleichtert. Schon bald wünschte er, er wäre in diesem halbbewussten Zustand geblieben, denn Klarheit zog Schmerz nach sich.
    Trotz alledem stiegen ihm erst am nächsten Mittag Tränen in die Augen und begannen, sein Gesicht hinabzurollen, als die Hügel von England, baumlos und grün und nicht weniger befremdlich als jede
andere Landschaft, die Jack auf seinen Reisen zu Gesicht bekommen hatte, sich am Horizont verdichteten. Das galt umso mehr für die Felsen von Dover. Die Brigg drehte jetzt und fiel ganz nach Norden ab, und eines Morgens wendete sie endlich auf einen westlichen Kurs und fing an, mit auflaufender Tide zu fahren und über die riesigen Sandbänke in der Themse zu gleiten, in denen ein Gewirr von Schiffswracks steckte, Spinetten gleich, die der Spannung ihrer Saiten nachgegeben hatten und zu schwarzen Knäueln implodiert waren. Während des ganzen Tages suchte sie sich ihren Weg durch die Mündung, vorbei an Gravesend und Erith und verschiedenen Orten am Long Reach, die die Shaftoe-Brüder, Jack, Bob und Dick, einst für schrecklich weit entfernt gehalten hatten.
    Auf der Themse wimmelte es weit flussabwärts von der Stelle, wo es in Jacks Kindheit der Fall gewesen war, von Schiffen, und so dachte Jack, sie hätten Dicks feuchtes Grab bereits passiert, um dann aber zu erfahren, dass sie es erst einige Zeit später erreichen würden. Doch als der Kapitän am Abend bestimmten Besatzungsmitgliedern Donnerbüchsen in die Hand drückte und sie aufforderte, nach Schlammlerchen Ausschau zu halten, wusste Jack, dass der Kreis sich endlich geschlossen hatte. Das empfand er als seltsam beruhigend. Die Heimat, so trostlos sie auch gewesen und immer noch sein mochte, hatte durchaus Kraft, seine Wunden zu heilen. Er musste an sich halten, dass er nicht über Bord sprang und ans Ufer watete, um sich in irgendeiner Ginbude in Limehouse zu vergessen.
    Das wäre jedoch unverantwortlich gewesen. Jack hatte eine Aufgabe, die erledigt werden musste. Er war jetzt ein Geschäftsmann, ein Städter, und keine Schlammlerche mehr. Er sagte dem Kapitän, er solle weiter flussaufwärts fahren, bis man die Lichter der London Bridge sehen könne.
    Als sie um die letzte Flussbiegung bei Wapping kamen, ergoss sich Licht über die eine Meile Wasser zwischen ihnen und der Brücke und zeichnete die Umrisse jeder Spiere und jedes Taus der unzähligen Schiffe, die im Pool vor Anker lagen. In Jacks Erinnerung war die Brücke ein schimmernder Lichtdamm quer über die Themse gewesen, aber jetzt konnte er sie kaum ausmachen, so sehr strahlte die hinter ihr neu erbaute Stadt. Es war fast, als stünde London, pünktlich zu Jacks Heimkehr, wieder in Flammen.
    Das strahlendste Objekt in Jacks Gesichtsfeld war aber weder die Brücke noch die Stadt. Am nördlichen Themseufer, von der Brücke
aus flussabwärts, erhob sich der Tower. Jack hatte ihn als grauen Steinhaufen in Erinnerung gehabt, durch dessen Schießscharten hier und da eine Kerze schien. In dieser Nacht jedoch war der Tower ein massiver Steinsockel, auf dem eine Säule aus von der Luft getragenem Licht ruhte, und alle Schiffe unterhalb von ihm im Pool schienen sich um seinen Glanz versammelt zu haben wie Mücken um eine Laterne. Das östliche Ende des Platzes war so dunkel wie immer, aber am westlichen Rand waren heiße Feuer entzündet worden. Dicke Dampf- und Rauchgebilde türmten sich auf, um die Sterne zu verdunkeln, und Funken rasten wie Meteoriten durch diese schwarzen Wolken. Die Flammen verbargen sich hinter den Mauern des Towers, strahlten aber von unten ihren eigenen Rauch an und machten ihn zu einer Art Leinwand, die heißes und flackerndes Licht über das Wasser warf. »Näher, näher«, forderte Jack immer wieder – inzwischen war klar, dass der Kapitän die Order hatte, Jacks Bitten unter allen Umständen nachzukommen. So wurden Matrosen nach unten geschickt, um die Langruder zu bedienen, und wie ein vielbeiniges Insekt, das durch einen überfüllten Bau kroch, tastete die Brigg sich stundenlang zwischen

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