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Confusion

Confusion

Titel: Confusion Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neal Stephenson , Nikolaus Stingl
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vielleicht drei Dutzend Pockennarben in ihrem Gesicht zurückgelassen. Die meisten waren nur bei direktem Sonnenlicht zu sehen; von den etwa zehn, die selbst bei Kerzenlicht erkennbar waren, ließen sich einige mit einer Haarlocke oder einem hohen Kragen verbergen, und der Rest wurde mit den schwarzen Schönheitspflästerchen abgedeckt. Eliza hatte nicht ernsthaft vor, für den Rest ihres Lebens jeden Tag damit zu beginnen, sich diese grässlichen Dinger auf die Haut zu kleben, aber der heutige Tag war etwas Besonderes; zum ersten Mal seit ihrer Ankunft vor sechs Wochen wagte sie sich aus dem Witwensitz von Pretzsch. Sie fuhr nach Leipzig – das in diesen Breiten als Großstadt galt – und war dort mit einigen Leuten verabredet.
    Von den sechs Wochen im Witwensitz war die erste (rückblickend) im Frühstadium der Krankheit hingegangen und hatte darin kulminiert, dass man Caroline und Adelaide weggeschickt hatte und dass der Erzherzog und seine Mätresse zu Besuch gekommen waren. Danach war zwei Wochen lang alles nur Pusteln gewesen. Erst am vierundzwanzigsten Tag war Eliza wieder richtig wach geworden und hatte begonnen, ihre Eindrücke zu stimmigen Erinnerungen zu verweben; zufällig war das derselbe Tag gewesen, an dem die fernen Kirchenglocken von Torgau und Wittenberg mit ihrem Geläut den Tod des Kurfürsten von Sachsen und seiner Mätresse verkündet hatten. Eleonore war zum zweiten Mal Witwe geworden. Sie war hinfort die Kurfürstinwitwe von Sachsen, was bedeutete, dass sie ausnahmsweise einmal im richtigen Haus wohnte: Der Witwensitz war der einer Witwe zugedachte Wohnort. Der neue Kurfürst war Johann Georgs Bruder August. August der Starke. Er hatte bereits hundert illegitime Kinder, und es hieß, er bemühe sich nach Kräften, das zweite Hundert vollzumachen; seine Leidenschaft, sich mit wilden Tieren im Einzelkampf zu messen, würde nicht dazu beitragen, Sachsens Ruf in Versailles zu verbessern; aber er hatte keinen Schlag auf den Kopf bekommen,
er grollte Eleonore nicht, und er wollte Caroline nicht vögeln, also sah es nach einer gewonnenen Partie aus.
    Eleonore war nach Dresden gerufen worden, um an der Beisetzung ihres Mannes teilzunehmen. Und nachdem man Elizas Matratze und Bettwäsche in einem großen Freudenfeuer am Elbufer geopfert hatte und der Schorf abgefallen und ihr neues Gesicht und ihr neuer Körper zum Vorschein gekommen waren, waren Caroline und Adelaide, zusammen mit dem größten Teil von Elizas Gefolge, endlich aus Leipzig zurückgekehrt. So viel zur vierten Woche; die fünfte und sechste hatte Eliza dazu verwendet, wieder zu Kräften zu kommen. Sie hatte das Gefühl, dass die Pocken mit ihren inneren Organen Ähnliches angestellt hatten wie mit ihrem Rücken, und so hatte es eine Zeitlang Probleme mit dem Essen, Verdauen und Ausscheiden gegeben. Selbst wenn sie rasch wieder auf die Beine gekommen wäre, hätte es eine Verzögerung gegeben, während neue Kleider für sie genäht wurden, in kleinerer, ihrem abgezehrten Körper angepasster Größe und mit Krägen, Ärmeln etc., um stark verunstaltete Teile ihres Körpers zu verbergen. Doch vorgestern hatte sie ganz plötzlich bemerkt, dass sie sich langweilte. Gestern hatte sie den ganzen Tag Pläne geschmiedet. Heute Morgen war sie in einem kleinen Tross geliehener und gemieteter Kutschen aufgebrochen. Einer plötzlichen Eingebung folgend, hatte sie beschlossen, Caroline mitzunehmen (denn Eleonore war damit beschäftigt, einen Witwenhaushalt zu organisieren) und mit ihr Adelaide (denn diese wurde inzwischen unleidlich, wenn sie nicht ihre Caroline zum Spielen hatte).
     
    »Was ist das denn für ein Unternehmen von Euch, das Kapitän Bart in seinem Brief erwähnt?«, fragte Caroline sie.
    »Tja, das ist schwer zu erklären!«, sagte Eliza. »Aber ich muss es gar nicht erklären, damit Ihr versteht, worauf es ankommt – dass nämlich Kapitän Bart, normalerweise der entschlossenste, rücksichtsloseste Mensch der Welt, sich nicht entscheiden kann, ob er seine Fracht nach Dieppe oder nach Le Havre bringen soll, und sich verpflichtet fühlt, mir einen Brief nach Leipzig zu schreiben, ehe er etwas unternimmt. Wenn ich zu Hause säße und strickte oder Karten spielte, würde er keinen solchen Zwang verspüren, das könnt Ihr mir glauben; aber weil ich unterwegs bin, bin ich eine unbekannte Variable in der Gleichung...«
    »Die für ihn damit schwerer zu lösen ist!«, sagte Caroline. »Onkel
Gottfried hat mir beigebracht, wie man solche

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