Confusion
aus der Nikolaikirche hinaus und in die Stadt hinein. Ihr blieb keine andere Wahl, als ihm zu folgen. Caroline folgte Eliza, und der Rest des Trosses schloss sich ihnen an. Eliza wandte sich um und befahl den Kindermädchen mit ein, zwei bedeutungsvollen Blicken, Adelaide wieder in eine der Kutschen zu verfrachten; diese fing deswegen so laut zu schreien an, dass sie Blicke von Huka paffenden türkischen Kaufleuten in einer halben Meile Entfernung auf sich zog.
»Ihr seid sehr unhöflich. Was hat das zu bedeuten?«
»Das Leben ist kurz«, sagte Leibniz und maß Eliza mit einem Blick von Kopf bis Fuß. Es war eine unverblümte Anspielung auf die Pocken.
»Ich kann zwei Stunden lang im Mittelgang der Nikolaikirche stehen und versuchen, es Euch mit Worten begreiflich zu machen, und am Ende werdet Ihr nur sagen: ›Das muss ich mit eigenen Augen sehen.‹ Oder ich kann einen fünfminütigen Spaziergang mit Euch unternehmen, und die Sache ist geklärt.«
»Wohin gehen wir? Caroline...«
»Sie soll mitkommen.«
Sie gingen über den Markt von Leipzig, der, als Eliza ihn das letzte Mal gesehen hatte, ein Labyrinth aus Gängen und Lücken zwischen duftenden Stapeln von Ballen-, Fass- und Markengütern gewesen war. Heute war er fast leer, und über die Pflastersteine wehten von Frühlingsbrisen getriebene Staubfahnen. Hier und da hatten sich wohlgekleidete Männer zu Zweier- und Dreiergrüppchen zusammengefunden, um Pfeife zu rauchen und miteinander zu reden – aber nicht im mal amüsierten, mal entgeisterten Ton von Kaufleuten, die über Bedingungen feilschen, sondern eher wie alte Männer am Sonntagnachmittag nach dem Kirchgang. Während Eliza und Caroline dem Doktor in die Straßen folgten, die von der anderen Seite des Platzes ausgingen, bekamen sie durchaus eine gewisse Geschäftstätigkeit zu sehen – aber nur in Straßenkaffeehäusern und nichts Gewichtigeres als die Bestellung einer dritten Tasse Kaffee oder eines zweiten Stückes Kuchen. Die Straße, in der sie sich nun befanden, wurde aufgelockert von breiten, gewölbten Bögen, deren jeder, wie Eliza wusste, in den Hof eines Handelshauses führte. Doch die Hälfte davon war geschlossen, und in denen, die geöffnet waren, erspähte Eliza nicht Massen durcheinanderrufender commerçants , sondern sich auflösende Grüppchen weitgehend untätiger Männer, die rauchten und an Getränken nippten. Trotz alledem aber war das Bild keineswegs düster. Man hatte vielmehr den Eindruck, als wäre ein Feiertag ausgerufen worden, und zwar nicht nur für Christen, Juden oder Mohammedaner, sondern für alle gleichzeitig. Und dieser Feiertag war umso vergnüglicher, als er ungewollt und ungeplant war. Leipzig war ruhig - als ob das Quecksilber, das diese Kaufleute in der Regel berauschte, sich aus ihrem Blutkreislauf verflüchtigt hätte. Wenn sie alle in einer Stadt wie Leipzig zusammenkamen, überfiel sie eine Art Wahnsinn und verwandelte sie in eine neue Art von Organismus, wie Fische, die einen Schwarm bilden. Ein solches umherhüpfendes, reizbares, rapierschnelles Geschöpf wäre, wenn es auf dem Marktplatz eines mittelalterlichen Dorfes erschiene, eine nutzlose, unbegreifliche Plage. Aber tausend von
ihnen zusammen ergaben ein funktionierendes Ganzes, das Wunder wirkte, die sich ein Dorfbewohner nicht vorstellen konnte. Dieser Zauber war heute gelöst worden, und es herrschte die Ruhe des Dorfes.
Aus dem Schlussstein eines besonders prächtigen Bogens ein Stück weit die Straße hinauf sprang ein goldener Merkur hervor. Das Tor darunter war zu, aber nicht verschlossen. Der Doktor schob einen Torflügel auf und bedeutete Eliza mit ausgestrecktem Arm, ihm vorauszugehen. Sie zögerte und schaute nach rechts und nach links. Das war eine Angewohnheit von Versailles, wo schon das bloße Überschreiten einer Schwelle in Gesellschaft eines anderen Menschen einen Zug im gesellschaftlichen Schachspiel darstellte, der mit Sicherheit bemerkt und beredet wurde und eine Reaktion hervorrief; tatsächlich waren die Menschen dort imstande, Stunden mit der Organisation der Details zuzubringen: dafür zu sorgen, dass bestimmte Menschen in der Lage waren, das Ereignis zu bemerken, und mittels der Tatsache, wer wem den Vortritt ließ, verschlüsselte Botschaften zu vermitteln. Hier war das ein wenig lächerlich, und das war Eliza auch klar; aber die Gewohnheit war schwer abzulegen. Sie sah sich um und gewann die Erkenntnis, dass ihr Eintritt in das Haus vom Goldenen Merkur von einem halben
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