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Confusion

Confusion

Titel: Confusion Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neal Stephenson , Nikolaus Stingl
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Probleme löst, indem man sich seiner Erfindung bedient, die Matrices heißt.«
    »Dann versteht Ihr mehr davon als ich«, sagte Eliza und verspürte nicht zum ersten Mal ein wenig Neid auf das Mädchen. »Und jetzt dürft Ihr Eurem Lehrer Eure Fähigkeiten demonstrieren.«
    »Onkel Gottfried ist da?«
    Die Kutsche war zum Stehen gekommen. Eliza öffnete selbst den Schlag und ließ sich von einem Lakaien heraushelfen. Caroline sprang hinter ihr hinaus und landete, mit minimaler Verzögerung von ihren Röcken und ihrem Zopf gefolgt, sicher auf beiden Füßen.
    Sie befanden sich auf einem Platz vor einer Kirche, aus deren offener Tür Orgelmusik drang. Nicht weit weg war der Markt von Leipzig mit dem großen, dunklen Rathaus an einer Seite und schmalen, von Handelshäusern gesäumten Straßen, die strahlenförmig davon ausgingen. Eliza drehte sich langsam auf der Stelle und nahm alles in sich auf. Aber ihr Gesichtsausdruck zeugte nicht von Staunen, sondern war eher beunruhigt, ja sogar ein wenig argwöhnisch. »Es ist so klein«, sagte sie.
    »Wenn Ihr in Pretzsch gewohnt hättet, würde es Euch ungeheuer groß vorkommen!«
    »Ja, als wir das letzte Mal hier waren – fast auf den Tag genau vor zehn Jahren -, hatten wir in einer Hütte in den Bergen gewohnt, und es kam uns tatsächlich groß vor!«
    »Wer ist ›wir‹?«
    »Egal... Aber es ist schon merkwürdig, wie der Verstand funktioniert. Ich habe mir eine Phantasievorstellung von dieser Stadt als großer Metropole gemacht, deren Handelshäuser ungeheuer reich und mächtig sind, und nun seht sie Euch an... In London, in Amsterdam gibt es Kaufleute, die könnten diese ganze Stadt kaufen und in ihre Westentasche stecken.«
    »Vielleicht solltet Ihr sie dann kaufen!«, sagte Caroline im Scherz.
    »Vielleicht habe ich das bereits.« Eliza hielt inne, blinzelte und ließ ihren Atem entweichen, wie um sich von allen alten Erinnerungen und übersteigerten Phantasien zu befreien, dann sah sie sich mit scharfem Blick um. »Ich habe einiges zu erledigen und muss Euch für ein paar Stunden allein lassen. Kommt!« Sie führte Caroline durch die Tür in die Kirche, die im Augenblick leer war. Die Orgelmusik kam von jemandem, der übte – kein großer Könner, denn er machte immer wieder Fehler, und dann brach er jedes Mal ab und hatte Mühe, den Rhythmus wiederzufinden.

    Dem Gebäude – der Nikolaikirche – fehlte die düstere, gespenstische Atmosphäre so vieler Kirchen. Das Tonnengewölbe wurde von kannelierten Säulen getragen – die aber nicht der dorischen, ionischen, korinthischen oder sonst einer bekannten Säulenordnung entsprachen. Denn die Kapitelle waren Büscheln schlanker, senkrechter Palmblätter nachempfunden. Die hohen Gewölbe darüber, die von klarem weißem, durch hohe Fenster einströmendem Licht durchflossen waren, verbanden sich miteinander und stürzten sich in diese üppigen grünen Blätterbüschel, aus denen Trauben von Früchten hervorlugten. Der Lettner beschrieb einen breiten Halbkreis mit einer Lücke in der Mitte, wie ein Paar Arme, die sich ausbreiteten, um die Gemeindemitglieder zu umfangen. Dahinter führten Stufen zu einem Altar hinauf, über dem an einem Kruzifix ein silberner Jesus hing. Dieser Teil der Kirche – der Altarraum – war ein Sanctum aus poliertem, weinfarbenem und vliesgrauem Marmor und vielen Fenstern, die einen Blick auf knospende Lindenbäume boten, die von vereinzelten, unsichtbar durch einen blauen Himmel sausenden Brisen geschüttelt wurden. Die Muster im Marmor ließen an mächtige Turbulenzen – etwa Stromschnellen oder durch kochende Wolken schießende Blitze – denken, die zum Stillstand und zum Schweigen gebracht waren. Damit erinnerten sie an die Vorstellung, dass man, wenn man die Lage und die Geschwindigkeit jedes Teilchens im Universum in einem bestimmten Moment kennte, alles wüsste – man wäre Gott. An der Westwand des Südschiffes befand sich eine Empore, die von einer großen Orgel mit silbernen Pfeifen und einem weißen, üppig mit Türmchen und Schnörkeln verzierten Prospekt eingenommen wurde. Verbissen über den Spieltisch gebeugt saß ein Mann in einer großen Perücke und einem Rock mit einem Brokatmuster aus Hunderten winziger Blumen. Ein älterer Herr in einer Akademikerrobe stand nahebei und schaute neugierig auf Eliza, Caroline und andere Mitglieder der Entourage herab, die den Mittelgang entlangkamen; denn Adelaide war durch das Anhalten der Kutsche geweckt worden, war ihrer Mutter

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