Cook, Robin
Taschenbuch auf, das sie gerade las, und vergewisserte sich, ob die anderen Passagiere ruhig blieben. Sie hasste Turbulenzen. Sie erinnerten sie daran, dass sie hoch über den Wolken schwebte, und da sie mit Technik nicht viel im Sinn hatte, war es ihr sowieso unbegreiflich, wie ein so schweres Objekt wie ein Flugzeug überhaupt abheben und fliegen konnte.
Beruhigt stellte sie fest, dass niemand den Rucken und Stößen Beachtung zu schenken schien, am wenigsten ihre Freundin Deborah, die neben ihr saß und beneidenswerterweise tief und fest schlief. Im Augenblick sah sie nicht gerade besonders vorteilhaft aus. Ihre fast schwarze Mähne, die sie in Italien bis auf Schulterlänge hatte wachsen lassen, war in wilder Unordnung, den Mund hatte sie leicht geöffnet. Joanna wusste, dass Deborah im Erdboden versinken würde, wenn sie sich so sehen könnte. Sie überlegte kurz, ob sie ihre Freundin wecken sollte, ließ sie dann aber schlafen. Während sie sie betrachtete, wurde ihr bewusst, wie sehr sich ihre jeweiligen Frisuren verändert hatten. Deborah trug ihr Haar jetzt lang, während sie selber sich im Verlauf der vergangenen sechs Monate an einen Kurzhaarschnitt gewöhnt hatte; ihr Haar war sogar noch kürzer als die Frisur, die Deborah früher getragen hatte.
Joanna wandte sich um und presste ihre Nase gegen das Fenster. Etliche Kilometer unter sich konnte sie schwach den Boden erkennen. Wie bei ihrem letzten Blick aus dem Fenster vor fünfzehn oder zwanzig Minuten überflogen sie immer noch eine Steppenlandschaft ohne besondere Merkmale, die gelegentlich von einzelnen Seen unterbrochen wurde. Da sie die Landkarte des Bordmagazins konsultiert hatte, wusste sie, dass sie gerade Labrador überflogen und bald zum Landeanflug auf den Bostoner Logan Airport ansetzen würden. Der Flug war ihr endlos lang vorgekommen; deshalb konnte sie es kaum erwarten, endlich wieder Boden unter den Füßen zu haben. Sie waren fast eineinhalb Jahre weg gewesen, und Joanna freute sich, die guten alten USA endlich wiederzusehen. Obwohl ihre Mutter ihr ständig in den Ohren gelegen hatte, doch wenigstens mal auf einen Besuch nach Houston zu kommen, hatte Joanna sich standhaft geweigert und sich nicht einmal zu einem Weihnachtstrip in die Heimat breitschlagen lassen. Die Weihnachtsfeiertage wurden im Hause der Meissners ziemlich festlich begangen, und wenn sie ehrlich war, hatte Joanna ihre Familie durchaus vermisst, zumal auch Deborah sie über die Feiertage verlassen hatte und zu ihrer Mutter und ihrem Stiefvater nach New York geflogen war. Doch bevor sie sich dem ständigen Genörgel ihrer Mutter aussetzte, die es immer noch als einen unverzeihlichen gesellschaftlichen Skandal empfand, dass ihre Tochter die Verlobung mit Carlton Williams gelöst hatte, hatte Joanna Weihnachten lieber allein verbracht.
Die beiden Freundinnen hatten ihre Pläne in die Tat umgesetzt und waren für eineinhalb Jahre nach Venedig gegangen. Durch ihren Auslandsaufenthalt wollten sie der Eintönigkeit ihres Doktorandinnen-Daseins für eine Weile entkommen und zudem der Gefahr vorbeugen, dass Joanna doch noch einen Rückfall erlitt und das Heiraten erneut zu ihrem eigentlichen Lebensziel machte. Nach ihrer Ankunft waren sie zunächst für ein paar Tage in der Nähe der Rialtobrücke im Stadtteil San Polo in jener Pension abgestiegen, die Deborah über das Internet ausfindig gemacht hatte. Danach waren sie auf Empfehlung zweier Studenten, die sie an ihrem zweiten Tag beim Kaffeetrinken auf der Piazza San Marco kennen gelernt hatten, in den Dorsoduro Sestiere umgezogen. Mit viel Glück und viel Lauferei hatten sie schließlich ein kleines, erschwingliches Zweizimmerapartment gefunden; es lag in der obersten Etage eines bescheidenen Hauses aus dem vierzehnten Jahrhundert an einem Platz namens Campo Santa Margherita.
Da sie zielstrebige Studentinnen waren, hatten sie sich schnell einen strengen Tagesablauf angewöhnt. Egal wie spät es am Abend zuvor auch geworden war – sie standen eisern jeden Morgen um sieben Uhr auf. Nach einer kurzen Dusche machten sie sich dann auf den Weg zum Campus, suchten dort eine der traditionellen italienischen Bars auf und genehmigten sich einen frisch zubereiteten Cappuccino. Während der Sommermonate war dieses morgendliche Ritual besonders angenehm, denn dann konnte man auf dem kleinen Platz vor der Bar im Schatten alter Platanen sitzen. Zum zweiten Teil ihres Frühstücks ging es dann weiter zum Rio di San Barnaba, wo die
Weitere Kostenlose Bücher