Cook, Robin
ihren Gedanken. Sie sah sich nervös in der Kabine um und wunderte sich, dass außer ihr niemand Angst zu haben schien. Plötzlich endeten die Turbulenzen genauso abrupt, wie sie begonnen hatten. Joanna sah aus dem Fenster, doch es hatte sich nichts verändert. Sie fragte sich, wie es überhaupt möglich sein konnte, dass ein Flugzeug am wolkenfreien Himmel durchgeschüttelt wurde wie ein Auto, das durch Schlaglöcher fuhr.
Als es wieder ruhiger war, grübelte Joanna über ihr Leben nach. Irgendwie wurde sie von dem Gefühl gequält, dass ihr etwas fehlte, und darüber konnten ihr weder ihre Reisen noch die intellektuellen Herausforderungen oder die fröhlichen Zusammenkünfte mit Freunden hinweghelfen.
Deborah war überzeugt, dass Joannas Rastlosigkeit daher rührte, dass sie so abrupt mit bestimmten traditionell weiblichen Zielvorstellungen abgeschlossen hatte; Kinder, Küche und Ehe standen nun mal nicht mehr an erster Stelle. Joanna hingegen glaubte noch einen anderen Grund für ihre latente Unzufriedenheit zu kennen: Seitdem sie gesehen hatte, wie verrückt die Italiener nach Kindern waren, musste sie immer wieder daran denken, was wohl aus ihren gespendeten Eizellen geworden war.
Während ihr Drang immer größer wurde, dem Ergebnis ihrer Eizellspende nachzugehen, hatte Deborah ihre Neugier lange Zeit unterdrückt, doch kurz vor ihrer Abreise hatte sie Joanna überrascht.
»Wäre es nicht interessant herauszufinden, was für Kinder aus unseren Eizellen entstanden sind?«, hatte sie plötzlich während ihres letzten Abendessens in Venedig gefragt.
Joanna hatte ihr Glas Wein abgestellt und ihre Freundin entgeistert angesehen. Als sie selber einen Monat zuvor die gleiche Frage gestellt hatte, war Deborah wütend geworden und hatte sie beschuldigt, von Zwangsvorstellungen befallen zu sein.
»Ob wir wohl eine Chance haben, irgendetwas herauszubekommen?«, fragte Deborah, die Joannas überraschte Reaktion gar nicht wahrzunehmen schien.
»Das dürfte schwierig werden«, erwiderte Joanna. »Immerhin haben wir Verträge unterschrieben.«
»Stimmt«, entgegnete Deborah. »Aber die sollten doch wohl in erster Linie unsere Anonymität sicherstellen, oder? Sonst käme womöglich irgendjemand daher und würde Unterhaltsgeld oder Ähnliches von uns verlangen.«
»Ich denke eher, die Anonymitätsgarantie gilt für beide Seiten«, erklärte Joanna. »Oder glaubst du vielleicht, die Wingate Clinic fände es gut, wenn wir plötzlich anfingen, in der Klinik gezeugte Kinder aufzuspüren und unsere Mütterrechte durchzusetzen?«
»Wahrscheinlich hast du Recht«, gestand Deborah. »Schade eigentlich. Wäre doch wirklich interessant zu erfahren, was aus den Eizellen geworden ist – und wenn es uns nur Gewissheit gäbe, dass wir überhaupt Kinder bekommen können. Schließlich kann man nie wissen, ob man nicht unfruchtbar ist. Davon können die zahllosen Frauen, die wir in der Wingate Clinic gesehen haben, sicher ein Lied singen.«
»Allerdings«, stimmte Joanna zu. Sie kam immer noch nicht über Deborahs plötzliche Kehrtwendung hinweg. »Ich würde auch gern Klarheit haben. Was hältst du davon, wenn wir nach unserer Rückkehr einfach in der Wingate Clinic anrufen und unser Glück versuchen? Fragen kostet schließlich nichts.«
»Eine gute Idee«, stimmte Deborah zu.
Seit dem Gespräch waren vierundzwanzig Stunden vergangen, und sie hatten den Atlantik überquert. Das Knistern der Sprechanlage riss Joanna erneut aus ihren Gedanken. Die Stimme des Kapitäns verkündete, dass sie in Kürze zu ihrem Landeanflug auf den Flughafen von Boston ansetzen würden und dass er jetzt die Anschnallzeichen einschalten werde und alle Fluggäste bitte, die Gurte anzulegen.
Joanna warf einen Blick auf ihren Schoß und vergewisserte sich, dass sie bereits angeschnallt war. Sie flog immer angeschnallt, egal ob das Zeichen aufleuchtete oder nicht. Mit einem kurzen Blick zur Seite stellte sie fest, dass Deborah ebenfalls angegurtet war. Sie schaute erneut aus dem Fenster und sah, dass die Landschaft sich verändert hatte: Anstelle der ausgedehnten Steppe überflogen sie jetzt dichte Wälder, die gelegentlich von einer großen Farm unterbrochen wurden. Vermutlich befanden sie sich über Maine, und wenn sie Recht hatte, war das ein gutes Zeichen, denn dann war es bis Massachusetts nicht mehr weit.
»Da kommt meine letzte Tasche«, rief Deborah und eilte zurück zum Gepäckband, auf dem sie unter Hunderten von Koffern ihr letztes
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