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Coole Geschichten für clevere Leser

Coole Geschichten für clevere Leser

Titel: Coole Geschichten für clevere Leser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henry Slesar
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fuhr er fort. »Ich habe beschlossen, mich endlich niederzulassen, Mary. Dies ist mein Zuhause, hier gehöre ich hin. Um mich hier wieder wegzubekommen, müßte man schon mit dem Brecheisen kommen.«
    Sie fuhren an der Rückseite des Marleybone- Schilds vorbei, und Onkel Vernon warf einen verstohlenen Blick darauf.
    »Ich hoffe, daß es mit dem Nachlaß keinen Ärger gibt«, meinte er. »Sähe Ralph gar nicht ähnlich, ein unklares Testament zu hinterlassen.«
    »Du hast Daddy in all den Jahren nicht ein einzigesmal geschrieben, Onkel Vernon?«
    »Nein, Püppchen. Ich wußte, daß deinem Vater nicht einmal meine armseligen Briefe willkommen gewesen wären.« Er seufzte abgrundtief. »Nein, Ralph und ich sind leider überhaupt nicht miteinander ausgekommen. Für ihn war ich ein Versager, ein nichtsnutziger Herumtreiber.« Er zwang den warmen Ton in seine Stimme zurück. »Aber was geschehen ist, ist geschehen, Püppchen. Jetzt ändert sich alles. Über der alten Zeit geht die Sonne unter …«
    Mit pochendem Herzen verlangsamte sie die Fahrt.
    »O je!« rief sie. »Die Unterlagen!«
    »Was?«
    »Die Papiere, die Mr. Bogash mir zur Unterschrift geschickt hat. Ich sollte sie jetzt mitbringen!«
    Onkel Vernon schnalzte mit der Zunge. »Wir sind doch schon halb da. Können wir die nicht ein andermal mitnehmen?«
    »Nein, er sagte, es sei wichtig.« Sie bremste, lenkte den Combi in eine Hauseinfahrt und legte den Rückwärtsgang ein.
    »Du fährst doch nicht etwa zurück?« fragte Onkel Vernon. »Es wird schon spät, Liebling, die Sonne geht unter.«
    »Aber ich muß zurück. Mr. Bogash sagte, ich soll die Dokumente auf jeden Fall mitbringen. Ohne sie ist unsere Fahrt sinnlos.« Sie setzte auf die Straße zurück und beschleunigte. »Wir sind in zehn Minuten zu Hause; er wartet sicher auf uns.«
    »Aber ich kann nicht warten, Püppchen, ehrlich. Ich habe heute abend eine Verabredung. Ich treffe mich mit so einem Kerl im Schwertfisch …«
    Entschlossen trat sie noch fester auf das Gaspedal, als gehe es ihr darum, möglichst schnell nach Hause zurückzukehren und ihren Fehler zu korrigieren. Die Nadel des Tachometers bewegte sich schnell über die Zahlen, und die Entfernung zwischen dem Wagen und dem Marleybone-Schild wurde immer kleiner.
    »Ras nicht so, Liebling!« sagte Onkel Vernon keuchend. »Ich glaube, mir ist schlecht, Püppchen. Könnten wir nicht mal einen Augenblick halten?«
    »Wir sind doch fast da«, sagte Mary.
    »Halt an, Liebling, halt an!« sagte er flehend. »Ich bekomme keine Luft mehr! Mary, bitte!«
    »Bald geht es dir besser«, sagte Mary und blickte starr auf die Straße. »Wir sind gleich da. Ich sehe schon das Marleybone-Schild …«
    »Halt an!«, kreischte er und zupfte an ihrem Arm. »Bist du verrückt geworden, Kind! Mary, ich sage dir, mir ist schlecht!«
    »Ich seh’s, Onkel Vernon, ich seh’s!«
    »Mary …«
    »Da ist etwas auf der Straße«, sagte Mary und starrte mit zusammengekniffenen Augen in die Dämmerung. »Siehst du es auch? Sieht aus wie ein Mann.«
    »Halt! Halt!« rief er. »Du bringst uns um, du bringst uns beide um!«
    »Da ist er! Da! Vor dem Schild!«
    Sie hörte ihn schreien und erlebte ein Gefühl, in dem hauptsächlich Zufriedenheit zum Ausdruck kam. Im nächsten Augenblick fummelte er am Türgriff herum; ein Luftstrahl fuhr ihr ins Gesicht, der Fahrtwind jaulte durch das Fahrzeug. Plötzlich war der Sitz neben ihr leer, und die bittere Zufriedenheit verflog, als sie erkannte, was Onkel Vernon getan hatte, um dem Schicksal zu entkommen, das sie auf der gewundenen Straße erwartete.
    Sie trat heftig auf die Bremse und brachte den Wagen mit kreischenden Reifen zum Stillstand. Dann stieg sie aus und rannte blindlings die Straße entlang. Mary sah kaum den Wagen, der am Straßenrand parkte, sie merkte kaum, daß sich Bart Hazelton bereits über die reglose Gestalt beugte, die auf dem Straßensplit lag.
    »Warte!« sagte er, richtete sich auf und verstellte ihr den Weg. »Das ist kein Anblick für dich, Mary. Du hast heute schon genug gesehen.«
    »Du hattest recht«, sagte sie. »Er drehte durch, als er das Schild kommen sah, Bart. Er dachte, wir würden in den Abgrund fahren, und sprang aus dem Wagen …« Sie sank gegen ihn und begann heftig zu schluchzen.
    Bart drückte Mary an sich, bis die Tränen versiegt waren.
    Eine Viertelstunde später traf die Polizei ein, und am nächsten Tag kehrte Sophie nach Marleybone zurück. Sie redete Mary nie wieder ins Gewissen,

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