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Coole Geschichten für clevere Leser

Coole Geschichten für clevere Leser

Titel: Coole Geschichten für clevere Leser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henry Slesar
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brüllte er. »Kannst du mir nicht mal mehr in die Augen sehen? Was ist hier eigentlich los?«
    »Nicht, Al, bitte …«
    »Hör mal, hältst du mich für einen kompletten Idioten? Glaubst du, ich weiß nicht, was hier so passiert? Urplötzlich bist du scharf auf Poesie und Bücher und solche Sachen. Redet ihr beiden über solche Sachen? Hör mal, wofür hältst du mich?« Seine Hände verkrampften sich um ihren Arm, wollten ihr absichtlich Schmerz zufügen. Als Edwina nicht protestierte, ließ er enttäuscht los.
    »Na schön«, sagte er tonlos. »Ruf den kleinen Bertie an und kündige ihm, wie es sich gehört. Erwische ich ihn noch mal im Umkreis von fünfzig Metern vom Haus, prügele ich den Chopin aus ihm raus …«
    Er schnappte sich den Musterkoffer und sein Reisegepäck. Dann verließ er das Schlafzimmer, nicht ohne mit dem Koffer am Türrahmen anzustoßen.
    Als Al fort war, brach sie in Tränen aus. Sie versuchte sich zu fassen und ging zum Telefon. Bertrams Mutter meldete sich und reagierte einigermaßen kühl. Bertrams Stimme dagegen war voller Verständnis und Wärme.
    »Edwina! Nett von Ihnen, daß Sie anrufen …«
    »Das werden Sie gleich nicht mehr sagen«, begann sie. »Ich muß die Stunde heute leider absagen. Es tut mir leid, Bertram.«
    »Alles in Ordnung? Sie haben gestern nicht besonders gut ausgesehen.«
    »Mit mir ist alles in Ordnung. Es ist nur … na ja, mein Mann möchte nicht, daß ich weiter Unterricht gebe. Er ist in der Firma sozusagen befördert worden und meint …« Das Schweigen in der Leitung war schmerzlich. »Bertram?«
    »Ich höre. Ihr Mann will mich nicht mehr im Haus haben, ist es das?«
    »Nein – das nicht. Er mag es nur nicht, daß ich arbeite. Sie wissen ja, wie altmodisch er ist.«
    »Ich weiß, was er ist.«
    »Es tut mir leid«, sagte sie gequält. »Wirklich schrecklich leid. Dabei machen Sie so gute Fortschritte. Sie werden eines Tages ein guter Pianist sein. Ich hoffe, daß Sie sich weiter ausbilden lassen, bei jemand anders, meine ich.«
    »Ich will aber niemand anders, Edwina! Ich will Sie!« Seine Stimme nahm einen geheimnisvollen Ton an. »Hören Sie, Edwina, muß er denn Bescheid wissen? Er ist doch sowieso meistens weg. Wenn wir einfach weitermachten – wie sollte er es jemals erfahren?«
    »Bitte, Bert, das ist unmöglich!«
    »Ich möchte Sie besuchen, Edwina. Ich muß Sie besuchen.«
    »Nein!«
    »Edwina, bitte …«
    Um nicht in Versuchung zu kommen, legte sie hastig auf.
    Am gleichen Abend gegen zehn Uhr saß Edwina im Nachthemd vor dem Piano, die Hände über die Tasten gebreitet, lautlos. Nach kurzem Zögern, fast ohne Willensanstrengung, begannen die Finger zu spielen. Die leisen, perlenden Töne brachten Schönheit und Melancholie ins Zimmer. Es war zuviel – sie hörte auf zu spielen.
    Plötzlich klopfte es.
    Sie öffnete und sah sich Bertram Mosse gegenüber. Das goldene Haar fiel ihm wirr ins Gesicht, warf einen Schatten über seine glühenden Augen.
    »Edwina«, flüsterte er. »Ich habe es nicht mehr ausgehalten …«
    Sie starrte ihn ohne Zorn, ohne Vorwurf an. Dann nahm sie ihn an der Hand und führte ihn wie ein blindes Kind ins Haus, die Tür hinter ihm schließend. Einen Augenblick lang standen sie mitten im Zimmer und starrten sich an. Dann ging Bertram zum Klavier und machte Anstalten, sich zu setzen. Edwina huschte an ihm vorbei und senkte den Deckel.
    »Nein«, sagte sie. »Nicht jetzt.«
    Er nahm sie in die Arme.
    Fast eine Stunde verging, ehe er sich dann doch noch an die Tasten setzte. Seine Musik war leicht und melodisch und wagemutiger als je zuvor. Sie lauschte entzückt; es war wie eine Liebeserklärung.
    Als die letzten Akkorde verklangen, ging die Tür auf. Al Bowen knallte den Musterkoffer gegen den Türrahmen und trat ein.
    Edwinas Hände zuckten hoch, eine verräterische Geste. »Al«, sagte sie.
    Bertram starrte auf die Tasten und drehte sich nicht um.
    Al Bowen atmete keuchend wie ein Drache. Sein Atem roch leicht nach Alkohol. Er verbreitete eine Atmosphäre des Hasses. Mit lautem Geräusch landete der Musterkoffer auf dem Teppich. Al ballte die Fäuste und atmete keuchend.
    Dann machte er einen Schritt vorwärts, und Edwina sagte: »Al, warte …«
    »Aufstehen«, sagte Al im Flüsterton zu dem Jüngling. »Steh auf, du …«
    Bertram gehorchte und drehte sich um, unsicher errötend und wieder erbleichend.
    Als rechte Hand wurde zu einem geballten Projektil. Es knallte gegen das Hemd des Jungen, raffte gierig Stoff

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