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Coole Geschichten für clevere Leser

Coole Geschichten für clevere Leser

Titel: Coole Geschichten für clevere Leser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henry Slesar
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Schmerzen und Leiden paßten. An jenem Morgen war er »le brave Americain« – eine Rolle, die ihm zu gefallen schien.
    Er setzte sich an einen der Tische vor Patricks Cafe und bewegte dabei geschickt die Krücken. Mit schnellen Schritten näherte sich der Kellner. Lachend entschuldigte sich Owen für sein schlechtes Französisch, bestellte einen Pernod und erkundigte sich nach »mon frere, Monsieur Gerald«, aber der Kellner zuckte nur die Achseln. »Macht nichts«, sagte Owen. »Er muß jeden Augenblick kommen.«
    Robin Gerald Layton ließ sich allerdings Zeit und brachte den Grund für seine Verspätung gleich mit – eine schwarzhaarige, braunäugige junge Frau mit einem flotten Pferdeschwanz und einem Schmollmund. Ihre Lippen schoben sich noch weiter vor, als Robin seinen Bruder erblickte, denn er versetzte ihr daraufhin einen spielerischen Schlag und schickte sie fort. Dann setzte er sich zu Owen an den Tisch.
    »Owen!« sagte er strahlend und schüttelte ihm überschwenglich die Hand. »Wie geht es dir? Wann bist du eingetroffen? Wartest du schon lange?«
    Owen lachte und löste die dicken farbbefleckten Finger von seiner Hand. »Langsam«, sagte er lachend. »Willst du mir den Arm auch noch kaputtmachen?«
    Jetzt erst entdeckte Robin den verbundenen Fuß und schnalzte mitfühlend mit der Zunge. Doch Owen tat alle Erklärungen mit einem Achselzucken ab. »Laß dich anschauen«, sagte er. »Wir haben uns seit über einem Jahr nicht mehr gesehen; du siehst französischer aus denn je.« Er umfaßte Robins Schultern und blickte in das bärtige junge Gesicht, ein Gesicht, das ihm nicht unähnlich war, besonders um die klaren, freundlichen Augen. Robin Gerald (das Layton hatte er unter den Tisch fallen lassen) war sechs Jahre jünger als sein Bruder, doch fünf angenehme Jahre im Ausland hatten dazu geführt, daß er womöglich noch jünger aussah.
    »Du hast dich auch verändert«, sagte Robin strahlend. »Dieser Bart! Ein richtiger Pelz! Dabei hast du dich immer über mein Gestrüpp lustig gemacht!«
    »Ja, sieht ziemlich grimmig aus. Ich spiele schon mit dem Gedanken, ihn zu stutzen, etwa nach deinem Stil. Hier«, fuhr Owen fort und schob sein Glas über den Tisch. »Trink den Pernod für mich zu Ende. Mit meinem Fuß sollte ich so etwas nicht trinken.«
    »Fuß?«
    »Gicht«, sagte Owen mit schiefem Lächeln. »Du weißt doch, vor ein paar Monaten habe ich dir darüber geschrieben. Kurz vor der Überfahrt hatte ich wieder einen Anfall, der wahrscheinlich längst überwunden wäre, wenn ich der verdammten französischen Küche widerstehen könnte. Ab sofort fahre ich nur noch mit britischen Reedereien.«
    »Typische Krankheit für einen Reichen«, sagte Robin lachend. »Du solltest dich nicht beklagen.«
    »Ja«, meinte Owen nachdenklich. »Du aber auch nicht, alter Knabe. Vergiß nicht, woher dein Geld kommt.«
    Robin sah ihn verlegen an. Sein einziges Einkommen waren die American-Express-Schecks, die Owens Unterschrift trugen. Owen hatte ihn zum »Malen« nach Paris geschickt, was Robin gelegentlich auch tat, wenn er nicht gerade mit Wein oder Weib beschäftigt war. Was Owen anging, so konnte er stets einen guten Grund für seine Parisreisen anführen. Er hatte Geschäfte mit der Weinexport-Firma seiner Frau.
    »Und wie geht es Harriet?« fragte Robin. »Noch immer die alte?«
    »Ja, meine erstaunliche Harriet ändert sich nicht. Manche Frau wäre es zufrieden gewesen, ihr Erbe in den Händen eines zuverlässigen Vermögensverwalters zu wissen. Aber Harriet ist nicht so. O nein.«
    »Trotzdem muß sie sich verändert haben«, stellte Robin fest. »Dieser Bart! Wenn sie den Busch zugelassen hat, ist sie nicht mehr die Harriet, die ich von früher kenne!«
    Owen lächelte nachdenklich und hob sein Glas.
    »Nein«, sagte er. »Sie ist nicht mehr dieselbe. Und genau das ist der Grund, warum ich mir den Bart habe stehenlassen und ins Ausland gegangen bin.«
    »Aber warum denn? Ich weiß nicht, was du meinst.«
    »Du wirst es schon verstehen«, sagte Owen. »Denn du wirst mir helfen.«
    »Wobei helfen?«
    »Harriet umzubringen«, erwiderte Owen. Dann nahm er seinem Bruder den Pernod aus der Hand, leerte das Glas, schmatzte mit den Lippen und atmete seufzend die belebende Pariser Luft ein.
    Seit Owens letztem Besuch war Robin ins Hotel Raspail umgezogen, und sein riesiges Studiozimmer überschaute die mächtige Kreuzung von Boulevard Montparnasse und Boulevard Raspail. Robin fand dieses Panorama offenbar anregend;

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