Coole Geschichten für clevere Leser
Deshalb sind Sie dann in die Stadt gezogen; das einzige, was Sie nun wieder herlocken kann, ist der Tod Ihres Bruders. Sie halten uns alle hier für einen Haufen Idioten, nicht wahr? Was immer wir tun, nichts ist Ihnen gut genug, habe ich nicht recht?«
»Daran liegt es nicht. Sie sind hier nicht gut genug. Sie verdienen Ihren Job nicht …«
»Was ist los, Mr. Powers? Wo Sie herkommen, glaubt man wohl nicht an Wahlen?«
»Sie sind Zimmermann!« brüllte Seth. »Sie haben Jeff Oglethorpes Schwester geheiratet, der Bürgermeister war und Sie deshalb auf die Kandidatenliste setzte. Sie haben keine Ahnung von diesem Posten. Sie sind Zimmermann, Klay!«
»Jetzt reicht’s mir aber«, sagte der Leichenbeschauer energisch und legte Seth die Hände auf die Brust. »Niemand hat Sie eingeladen, also laden Sie sich auch schleunigst wieder aus. In dieser Stimmung rede ich nicht mit Ihnen.«
»Sie werden mit mir reden müssen, Klay. Ich vergesse Ihnen das nicht …«
Der Leichenbeschauer schob den anderen mit der flachen Hand zurück. Zornig schlug Seth den Arm zur Seite, und Klays Augen wechselten die Farbe. »Raus!« brüllte er und begann Seth zur Tür zu drängen. Aber der jüngere Mann rührte sich nicht von der Stelle. Es kam zum Gerangel und schließlich zum Kampf: Klay brüllte ein zweitesmal los, und Seth spürte plötzlich die Handgelenke des Mannes zwischen seinen Händen und schob den Leichenbeschauer rückwärts auf den Kamin zu. Es gab ein knöchernes Geräusch, die zornigen Züge des Leichenbeschauers entspannten sich, dann glitt Klay mit kindlichem Stöhnen zu Boden. Seth beugte sich über ihn, zu zornig, um Mitgefühl aufzubringen, und forderte ihn brüllend auf, sich zu erheben. Als Klay keine Bewegung mehr machte, brüllte Seth ihn noch einmal an und erkannte plötzlich, daß keine noch so laute Stimme den Vorhang zu durchdringen vermochte, der zwischen ihm und dem Mann auf dem Boden niedergegangen war. Starr blickte er zur Tür, griff danach, riß sie auf und floh in die Nacht.
Eine Woche war vergangen, und der Nachlaß seines Bruders war noch immer nicht ganz geregelt. Trotzdem nahm sich Seth Powers einen Nachmittag frei, um an der Totenschau teilzunehmen.
Ray Oglethorpe, der neu bestellte Leichenbeschauer von Haughton County, ließ den Blick über sein Publikum gleiten und räusperte sich.
»Nach Untersuchung aller Einzelheiten«, sagte er und legte die Fingerspitzen zusammen, »dürfte es keinen Zweifel geben, daß Willard Klay einen seiner Schwindelanfälle erlitt, stürzte und dabei mit dem Kopf gegen den Kaminsims stieß, was einen Schädelbruch auslöste. Nach Ansicht des County ist sein Tod auf einen Unfall zurückzuführen.«
Und als sämtliche Einzelheiten der Totenschau abgewickelt waren, erhob sich Seth Powers zusammen mit den anderen Zuschauern und verließ stumm den Saal.
Der Blick des Witwers
Die schwarz-rote Limousine bog scharf in die baumbeschattete Auffahrt ein und kam nur wenige Zentimeter vor der weiß gestrichenen Garage zum Stillstand. Der Mann am Steuer schien es mit dem Aussteigen nicht halb so eilig zu haben, wie seine schnelle Anfahrt vermuten ließ. Er rauchte zunächst noch seine Zigarette zu Ende und drückte sie sorgsam aus. Als er die Wagentür endlich öffnete und die Füße auf die Kiesauffahrt setzte, blickte er zu dem bescheidenen einstöckigen Haus hinüber und schien sich noch mehr überwinden zu müssen.
Schließlich ging er quer über den Rasen zur Haustür. Er war ein breitschultriger Mann mit dickem Gesicht, das ohne die Bräunung ungesund gewirkt hätte. Die Erklärung für die Bräune fand sich auf dem Nummernschild seines Wagens: FLORIDA 1959.
Der Mann, der an die Tür kam, hielt die Abendzeitung in der Hand und trug weiche Hauspantoffeln: er war geradezu die Karikatur eines Familienvaters nach Feierabend. Er blinzelte den Besucher durch seine Bifokalbrille an, die sein junges Gesicht wesentlich älter wirken ließ, und fragte: »Ja?«
»Mr. Elwell? Sie erkennen mich wohl nicht wieder. Ich bin … ich bin Jake Lyons.« Als der andere ihn lediglich ratlos ansah, fügte er hinzu: »An meinen Namen erinnern Sie sich bestimmt nicht gern, Mr. Elwell. Das weiß ich durchaus. Darf ich mal einen Augenblick hineinkommen?«
»Ich weiß nicht recht …«
»Ich bin’s, Mr. Elwell.« Er trat mehr ins Licht. »Jake Lyons. Der Mann, der Ihre Frau – umgebracht hat.«
Der typische Feierabendmann mit Pantoffeln und Abendzeitung verschwand – dafür erschien ein
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