Coole Geschichten für clevere Leser
waren.
Es schmerzte ihn, seinen englischen Anzug in eine Aschentonne werfen zu müssen, doch er überwand sich. In zerdrückter Hose und Sporthemd und mit beschmutztem und zerzaustem Bart machte er sich auf den Weg in die Bowery. Dort gesellte er sich zunächst zu einer Gruppe von Tramps, die vor einer Kleiderausgabe Schlange standen, und legte sich ein Kostüm zu, das er nicht hätte erfinden können – ein mottenzerfressener, verwaschen-blauer Sweater, ein doppelreihiges Jackett mit zerrissenem Futter und unzähligen Knitterfalten und ein Filzhut mit fleckiger Krempe. Er verließ die Kleiderausgabe, kaufte sich für achtundneunzig Cents eine Flasche Sauterne und belegte im Hotel Lamb ein Bett für fünfzig Cents die Nacht.
Er fühlte sich wirklich denkbar unwohl, doch zugleich war er nicht unzufrieden. Hier würde ihn niemand erkennen, in diesen Kreisen bestand nicht die Gefahr, daß er alten Freunden oder Bekannten über den Weg lief.
Oder vielleicht doch? Der Gedanke amüsierte ihn.
Montag mittag hob er in einer verrauchten Snackbar, deren Kaffee nach Desinfektionsmittel schmeckte, eine feuchte und fleckige Zeitung vom schmutzigen Kachelboden auf. Auf der zweiten Seite stand ein Artikel, der ihm trotz der übelriechenden Gerichte, die hier serviert wurden, Appetit machte.
FRAUENMORD AUF DER EAST SIDE
Tanzlehrer unter Mordverdacht verhaftet
Das war eine Wende der Dinge, die er nicht berücksichtigt hatte – weder vorher, noch bei der Durchführung des Plans. Die Entwicklung gefiel ihm aber sehr.
Die S. S. Empire legte am Morgen des Zwölften an. Eine Stunde vorher machte Owen einen kurzen Besuch im Grand-Central-Bahnhof. Er holte sein Gepäck aus dem Schließfach, rasierte sich im Waschraum und zog saubere Sachen an. Dann mietete er auf den Namen seines Bruders ein Auto und fuhr zum Pier 16.
Die Passagiere begannen aus dem Zollhaus zu strömen. Owen war darauf gefaßt, daß Robin zu den letzten gehören würde.
Endlich hatte er seinen Auftritt in Owens grünem Plaidmantel mit hochgeschlagenem Kragen, Owens Homburg tief über die Augen gezogen. Er hantierte ungeschickt mit Owens Krücken, gab aber einen ganz überzeugenden Krüppel ab.
Owen eilte ihm fürsorglich entgegen. Die Begrüßung erfolgte allerdings durch zusammengebissene Zähne.
»Was ist mit dem Steward?« fragte er gepreßt. »Hast du ihn vor Verlassen des Schiffes gesehen?«
»Nein«, brummte Robin. »Ich konnte ihm aus dem Weg gehen. Ein Trinkgeld habe ich ihm auch nicht gegeben, ganz wie du gesagt hast.«
»Gut!«
Owen half dem Bruder in das wartende Auto. »Schnell!« sagte er energisch. »Nimm die Binden ab, gib mir Hut und Mantel.«
Wie schon einmal wechselten sie die Kleidung. Als Owen den Wagen verließ, trug er Homburg und Mantel, und die Bandagen befanden sich wieder am ursprünglichen Fuß. Die Krücken kamen ihm wie alte Freunde vor, während er zum Pier zurückhumpelte.
Ein Schiffsoffizier kam durch den Passagierausgang. Owen grinste dem näherkommenden Mann entgegen und grüßte ihn in dem Augenblick, als der Offizier nickte.
»Verzeihen Sie«, sagte er freundlich. »Können Sie mir sagen, wann die übrigen Besatzungsmitglieder von Bord gehen?«
»Besatzungsmitglieder? Nun, einige gehen gar nicht an Land. Wen wollten Sie denn sprechen?«
Owen lächelte. »Es ist mir einigermaßen peinlich. Da ist ein Steward, den ich noch sehen wollte, ehe ich meine Kabine verließ. Er hat mich sehr gut versorgt.«
»Wie heißt er?«
»Pawkins, ein alter Knabe, sehr nett.«
Der Offizier lachte leise. »Ach ja, den kenne ich. Nun, da es sich um Pawkins handelt, hätte ich einen Vorschlag. Sie begleiten mich zum Büro des Zahlmeisters, und ich sehe mal zu, ob ich Pawkins dorthin holen kann. Dann können Sie dem Mann richtig danken.«
»Vielen Dank«, sagte Owen.
Pawkins freute sich wirklich sehr. Mit feuchten Augen starrte er auf die beiden Fünfzigdollarscheine und schüttelte Owen energisch die Hand.
»Ich bin Ihnen sehr dankbar«, sagte er. »Sehr dankbar, Sir. Und ich hoffe, daß Sie bald wieder mit uns fahren.«
»Bestimmt«, sagte Owen. »Sie können sich darauf verlassen.«
Er überließ Robin den auf seinen Namen gemieteten Wagen und gab ihm die Anweisung, sich in Greenwich Village eine Wohnung zu nehmen und eine Zeitlang ruhig zu leben. Dann fuhr er im Taxi nach Hause. Dort rechnete er mit Besuch – und wurde nicht enttäuscht.
»Mr. Layton?« fragte der Polizeibeamte. »Wir haben leider schlechte Nachrichten
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