Cop
will keine Schwäche zeigen. Sie weiß, wie grausam er ist und dass ihn Schwäche nur herausfordert.
»Nein, du wolltest nicht erwischt werden.«
»Das stimmt nicht.«
»Und deshalb tut es dir leid, dass ich dich doch erwischt hab.«
»Weiß nicht.«
»Ich weiß es aber.«
Im selben Moment rammt er ihr die Faust in den Magen. Die Luft bleibt ihr weg, ihre Lungen entleeren sich auf einen Schlag. Würde sie nicht an den Handgelenken gefesselt über dem Boden hängen, würde sie sich zu einem kleinen Ball zusammenrollen. So kann sie nur hin und her baumeln und vor sich hin japsen wie ein Fisch am Angelhaken.
Während er dasteht und zuschaut. Während sich seine Fäuste öffnen und schließen.
»Das war nicht nett von dir, Sarah.«
Henry und Beatrice haben sie von Anfang an Sarah genannt – wahrscheinlich um sie zu quälen, um sie zu verwirren, damit sie irgendwann nicht mehr weiß, wer und was sie ist.
Kaum hat sich ihre Atmung ein wenig beruhigt, packt er sie an den Hüften und stoppt ihr Schwingen.
»Hast du mir was zu sagen?«, fragt er, nachdem er sie lange stumm betrachtet hat.
Sie atmet ein und aus, ein und aus. Ihre Brust hebt und senkt sich, ihr Magen hat sich zusammengeballt. »Mein Daddy kommt mich holen.«
»Was?«
»Ich hab meinen Daddy angerufen und ihm alles erzählt. Du solltest mich lieber freilassen, sonst, sonst kommt er her und dann …«
»Du lügst!« Ein gewaltiger Schrei, brutal wie eine tosende Welle. Doch Maggie hält seinem Blick stand, auch wenn sie automatisch zurückzuckt. »Sag mir, dass du lügst!«
Sie schüttelt den Kopf. »Er wird dich ins Gefängnis werfen.«
»Henry?« Beatrice’ Stimme poltert die Treppe herunter.
»Was ist?«
»Du kommst zu spät zur Arbeit!«
Henry wirft einen Blick auf seine Uhr und stößt einen leisen Fluch aus. »Bin sofort oben!« Er packt Maggie an der Hüfte, hebt sie vom Haken und stellt sie auf den kalten Betonboden. Dann löst er die Fesseln von ihren Handgelenken und wickelt das Seil auf, zu vier blutigen Schlaufen.
Maggie betrachtet ihre Handgelenke. Das Seil hat sich tief in ihre Haut eingegraben. Schnell krabbelt sie zur Wand, ohne dabei Henry aus den Augen zu lassen. Sie rechnet mit einem letzten Akt der Gewalt.
Aber er deutet nur auf das rostige Waschbecken in der Ecke. »Mach dich sauber, bevor Bee das Abendessen runterbringt.« Dann stapft er die Treppe hinauf. Auf halbem Weg hält er inne und dreht sich noch einmal um. »Weißt du was? Du hast Bee das Herz gebrochen. Sie will doch bloß eine Tochter. Ist das denn zu viel verlangt? Sie liebt dich, das weißt du ganz genau. Sie liebt dich, obwohl du eine missratene Tochter bist.« Damit wendet er sich endgültig ab, steigt die restlichen Stufen hoch und schaltet oben das Licht aus. Die Tür schließt sich hinter ihm, und Maggie hört, wie der Riegel vorgeschoben wird.
Auf einmal ist es dunkel. Das kleine Fenster lässt noch ein bisschen Helligkeit herein, aber es ist schon später Nachmittag, und das Licht ist grau. Grau wie Spülwasser.
Nach und nach kehrt das Blut in ihre Hände zurück, begleitet von einem hellen, pulsierenden Schmerz. Während sie versucht, die Finger zu krümmen, weint sie leise vor sich hin. Sie kann nicht anders, es tut einfach weh. Aus Erfahrung weiß sie, dass der Schmerz erst in ein paar Minuten nachlassen und vorher sogar noch anschwellen wird.
Aber sie weiß auch, dass sie es beinahe geschafft hätte. Dass ihre Flucht beinahe geglückt wäre.
Nach Jahren der Gefangenschaft ist sie zum ersten Mal hier rausgekommen. Die Hoffnung, die sie vor langer Zeit begraben hat, erwacht zu neuem Leben, ein heißes Pochen in ihrer Brust. Ja, sie ist zurück im Albtraumland, aber selbst hier spürt sie noch, dass sie eine Chance hat. Die Welt auf der anderen Seite des Fensters ist nicht mehr unerreichbar. Sie hat ihren Boden unter den Füßen gespürt. Sie ist zwischen ihren Bäumen hindurchgerannt. Sie hat Daddys Stimme an ihrem Ohr gehört.
Bei ihrem Ausbruch heute hatte sie bloß Glück, das ist ihr klar. Aber wenn sie alles genau plant, muss sie sich nicht mehr auf ihr Glück allein verlassen. Und diesmal wird sie niemand zurückbringen.
Henry geht zum Kühlschrank. Im obersten Fach liegt die braune Papiertüte, die Beatrice für ihn vorbereitet hat. Er schaut hinein: eine Tupperware-Dose mit einem Brocken Corned Beef in einer wässrigen Kohlsuppe. Immer bekommt er die Reste vom Vortag; er freut sich schon auf das morgige Frikadellenbrötchen.
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