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Copyworld: Roman (German Edition)

Copyworld: Roman (German Edition)

Titel: Copyworld: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Szameit
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eingesponnen, gefesselt von den zarten Fäden
unzähliger Verlockungen. Und mit beängstigender Befriedigung fühlt er die
Metamorphose, mit der gänzlich neue Gedanken, zaghaft erst, durch sein
Bewußtsein perlen: Natürlich muß die Raupe den freien Flug verachten, da es ihr
doch nicht vergönnt ist, den Wind unter die Flügel zu zwingen. Der kriechende
Gang scheint ihr der Sinn ihres und allen Lebens, weil sie nur kriechen kann –
wüßte sie von ihrer wahren Bestimmung, würde sie sich vor Sehnsucht nach den
Wolken verzehren und sich von der nächsten Böe hoch empor wirbeln lassen, zur
Erde niederstürzen und zertrampelt werden… Oh, ich war eine gute Raupe, fleißig
und gehorsam, habe artig von allen Blättern und Blüten gekostet und mich artig
dick und rund gefressen, ohne den Blick je sehnsüchtig zur Sonne zu heben, die
in mir nie ein anderes Gelüst als Neugier weckte. Wie könnte ein Raupenverstand
je begreifen, daß Enge und Beschränktheit   nur Merkmale des Gehäuses sind, das der großen Umwandlung Schutz bietet?
Nun aber ist es an der Zeit, die Puppenhülle zu sprengen und die Flügel zu
trocknen.
    Wie ein schillernder
Schmetterling tritt Hyazinth aus dem Schatten seiner Vergangenheit, strafft
sich selbstbewußt und sagt mit klarer und fester Stimme: “Dein Denken soll eins
sein mit der Lehre. Du sollst alle Zweifel an der Lehre aus dir reißen, denn
sie verwirren dein Denken. Du sollst die Älteren achten und ihnen gehorchen,
denn sie besitzen Weisheit und Wahrheit der Lehre. Prüfe dich täglich: Warst du
der Lehre treu, warst du aufrichtig gegen die Älteren, hast du das Gelernte
geübt? Wer für das Glück der Menschheit arbeitet, muß die Menschen lieben – übe
nie Willkür. Habe keine Freunde, die deiner nicht würdig sind. Scheue dich
nicht, Fehler einzugestehen und zu korrigieren. Achte die Rituale, denn sie
sind wahre Harmonie…”
    Korund Stein blickt ihn
verwundert an, Hyazinth jedoch läßt sich nicht beirren und spricht weiter die
zwölf Generalgebote: “… Sei zuverlässig, denn du bist wie das Glied in einer
Kette, mit der die Welt bewegt wird. Wache über deinen nächsten, damit er nicht
irrt. Dein Leben gehört der Gemeinschaft; beklage nicht, daß die Menschen dich
nicht kennen – zu beklagen ist, wenn du die Menschen nicht kennst. Bemühe dich
um Harmonie, denn jedes Teil hat nur einen Platz im großen Gefüge, ob oben oder
unten.”
    Immer noch starrt ihn der EA
ungläubig an, etwas wie Unbehagen zeigt sich in seiner Miene.
    “Es ist leicht, Deva, die
Generalgebote auswendig zu lernen”, fährt Hyazinth fort, und nun mischt sich
gar Unwillen in den Ausdruck von Befremden, der deutlich im Gesicht des
Obersten Ehrenmärtyrers steht. “ Und es ist kaum schwerer, nach ihnen zu denken
und zu handeln. Aber heute... heute habe ich sie das erste Mal in meinem Leben
wirklich verstanden.”
    Korund Stein entspannt sich, mit
einem Schlag leuchtet Wohlwollen in seinen Augen.
    “Sie sind nicht das Gefäß für
unseren Verstand, die schützende Hülle unseres Willens, der Weg unter unseren
Füßen…” Erneut verdunkelt sich die Miene des Exarchen    , aber nur vorübergehend, denn Hyazinth
fährt fort: “… sie sind ungleich mehr. Sie sind der Verstand selbst, der reine
Wille, sie sind die Füße, die uns tragen – sie sind eine unbändige Kraft, die
zu nutzen man erlernen muß. Sie sind selbst der schöpferische Geist, und mit
meiner geringen Kraft will ich diesem Geist freudig dienen.”
    Korund Stein nickt befriedigt.
Mit feinem Lächeln antwortet er: “Die Kaulquappe Hyazinth Blume dachte darüber
heute früh noch ganz anders.”
    Hyazinth weiß sofort, worauf der
Exarch    anspielt: Zur Zeit des
heraufdämmernden Morgens hatte Opal plötzlich vor ihm gestanden, um ihm ein
letztes Mal Verhaltensmaßregeln mit auf den Weg zu geben. Natürlich ist Korund
Stein über den Inhalt des Gesprächs informiert. Was den jungen Zögling vor
Minuten noch in Angst und Schrecken versetzt hätte, erheitert ihn nun beinahe.
    “Deine Gedanken waren recht
interessant und zum Teil originell. Ich habe mich köstlich amüsiert, denn unter
ihnen spürte ich schon das heftige Strampeln, mit dem der Säugling sich seiner
Windeln zu entledigen suchte…”
    Weiß der Teufel, warum Opal Stein
seinen Lieblingsschüler unentwegt beschwor, nichts über die Umbenennung der
Zentralstadt zu sagen. Gerade daran entzündete sich Hyazinths
Widerspruchsgeist. Er erinnert sich noch gut, Opal sagte:

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