Copyworld: Roman (German Edition)
Mission ist eine
ausschließlich –” Hyazinth beißt sich sogleich auf die Lippe. Fast hätte er
einen unverzeihlichen Fehler begangen. Vielleicht war das Rhomegas Absicht: Ihn
in Sorglosigkeit wiegen, sein Mißtrauen einschläfern, um ihm dann Informationen
zu entlocken?
“Ich weiß. Eine ausschließlich
ideologische. Du solltest dank deiner Popularität als Sigmatänzer irgendwann
der verlogenen Lehre von der Großen Umkehr den Weg in die Gehirne der Massen
öffnen. So jedenfalls hat man es dir eingetrichtert. Korund ist viel
raffinierter als manch einer ahnt, er weiß vom berühmten Tänzer Telesis, der im
antiken Griechenland lebte und fähig war, die ganze pythagoräische Philosophie
zu tanzen. Aber der eigentliche Sinn dieser Aufgabe ist viel simpler, besteht
darin, den Menschen vor allem erst einmal das Interesse an ideeller Tätigkeit
zu nehmen. Brot und Spiele. Das gab’s schon vor Jahrtausenden. Erst mittels der
Spiele den Verstand einschläfern, dann den Kelch tröpfchenweise mit der
Herrscherideologie vergiften – das Konzept war bisher immer erfolgreich.”
Hyazinth ahnt dumpf, daß sich
genau in solchen Reden jener Wahnsinn offenbart, der Folge der genetischen
Deformation ist. Korund Stein hat recht: Dies ist eine sehr gefährliche
Entartung! Die Menschen machen einen vermeintlich gesunden Eindruck, sogar ihre
Gedanken klingen bisweilen plausibel und interessant.
Seine Entscheidung ist klar. Er
wird so tun, als glaube er Rhomega jedes Wort. Aber immerhin gibt es da eine
Menge Ungereimtheiten, die ihm Coromandel Mazarin unbedingt erklären muß.
Kaum haben sie die Kuppelschleuse
passiert, weht ihnen eisiger Wind entgegen. Die Luft riecht stechend und
säuerlich, fast wie in Weltenstein, nur nicht ganz so intensiv. Eine gewisse
Weile könnte man sie wohl ohne Filterstopfen atmen. Das erste Mal sieht
Hyazinth die Sibirische Wüste. Als er nach Szingold kam, war unter der dichten
Wolkendecke nicht einmal die Klimakuppel der Megastadt zu erkennen, geschweige
denn die unendliche Weite des sie umgebenden Ozeans aus Sand. Kurz vor der
Landung glaubte er, graue Hügel zu entdecken, aber da glitt die Flugspindel
bereits durch die Öffnung des Landeschachts.
Sie fahren fast eine Stunde.
Rhomega steuert das behäbige Fahrzeug zwischen hohen Sicheldünen aus
graubraunem, rieselndem Sand hindurch. Dann hält er und sagt: “Hörst du?” Dabei
blickt er schwermütig in die endlose Ferne.
Ein seltsames Geräusch schwingt
und vibriert über der Wüste, übertönt das Singen des Windes. Es klingt wie ein
langgezogenes Jammern tausender Menschenstimmen, beinahe melodisch, aber auch
furchteinflößend schaurig.
“Der Wind”, sagt Hyazinth, aber
ihm schlagen die Zähne klappernd aufeinander, denn er glaubt es selbst nicht.
“Nein, lieber Hyazinth, das ist
nicht der Wind”, antwortet Rhomega tonlos. Hyazinth rutscht auf seinem Sitz
unwillkürlich an Rhomega heran, bis sich ihre Schultern berühren. Er hat eine
gespenstische Vision: Die Seelen Abertausender Verstorbener irren durch die
Wüste auf der vergeblichen Suche nach dem Paradies, und sie rufen unentwegt
nach ihm, damit er ihnen den Weg weise.
Selbst Kinderstimmen scheinen
sich in den grausigen Chor zu mischen, hohe dünne Stimmchen, die verzweifelt
klagen.
“Oh, mein Gott!” Hyazinth zittert
am ganzen Körper.
Die düster wirbelnden
Wolkenmassen scheinen mit dem Grau der Wüste zu einem endlosen Nichts zu
verschmelzen. Bald ist Hyazinth, als höben und senkten sich die scharfen Bögen
der Dünen wie Wellenkämme, alles um ihn herum gerät in Bewegung, fließend und
träge, aber von lebloser Gleichförmigkeit. Und die klagenden Stimmen werden
immer lauter, umschwirren ihn, lassen sich neben ihm nieder und bedrängen ihn
mit bizarren Melodien, als sei es die Zeit selbst, die qualvoll aufstöhnt unter
unvorstellbarem Schmerz.
Hyazinth spürt, wie er allmählich
erstarrt. Noch einmal preßt er hervor: “Mein Gott!” Da hört er Rhomegas Stimme,
wie aus weiter Ferne. Er wendet sich erschreckt um und brüllt auf vor
plötzlicher Angst. Rhomega ist verschwunden. Die Berührung an seiner Schulter,
dieses warme Pulsieren, das er für den Körper seines Begleiters hielt – das ist
Federchen, die sich zärtliche gegen seinen Oberarm schmiegt!
“Ja, es ist Gott!” hört er wieder
Rhomega, und endlich entdeckt er ihn. Oben auf dem Kamm einer Düne steht er mit
ausgebreiteten, in den Himmel gestreckten Armen, das totenblasse Gesicht den
Wolken
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