Copyworld: Roman (German Edition)
meist nicht mal einem
Dutzend…
Mit einem letzten nachdenklichen
Blick umfaßt Hyazinth die Kostbarkeiten des Steinparks, dann wendet er sich zum
Gehen. Mit der Abenddämmerung ist auch die Farbe in die Welt zurückgekehrt, die
vor der Hitze des Tages geflohen war. Die fernen Gebäude von Villafleur –
zukünftig Weltenstein – leuchten wie tausend Regenbögen. Es sind die wenigen
Stunden der Blüte – so sagte man früher, als Lotos Blume die Geschicke der
Zentralstadt leitete. Heute nennt man den Abend die Zeit der mineralischen
Pracht, man spricht von kristallener Frische, vom Diamantfeuer der Lichter, von
der erzenen Schwere des wolkenverhangenen Himmels. Nicht mehr lange, dann wird
nur noch Dunkel sein. Dann laufen die Programme…
Auf einmal zuckt Hyazinth
zusammen, duckt sich instinktiv, denn irgendetwas Schattenartiges segelte
bedrohlich tief über ihn hinweg. Er reißt die Arme nach oben und meint für
einen kurzen, verwirrenden Augenblick, eine seltsam gebogene Klinge mit einem
knotigen Holzschaft in Händen zu halten. Es dauert nicht länger als eine
Sekunde. Verstört blickt Hyazinth um sich, sucht erschreckt den Himmel ab. Aber
das Geisterwesen ist nirgends zu sehen. Bestimmt war es nur Federchens
Schatten, versucht er sich einzureden. Aber immer noch schwirrt eine
unbestimmbare, tiefe Furcht in seinem Schädel herum wie eine fette, häßliche
Fliege. Und er erinnert sich mit Unbehagen, daß er am Morgen schon einmal solch
eine gespenstische, unerklärliche Begegnung hatte.
Irgendetwas stimmt mit mir nicht.
Vielleicht hat der Masterteacher recht: Ich vermag meinen Verstand nicht zu
kontrollieren, er bricht immer wieder aus der Gefangenschaft des Leibes aus und
schwirrt dann hilflos umher im Nichts...
Heute hat Hyazinth den
Abendspaziergang bis zum letzten Augenblick ausgedehnt. Das hat mehrere Gründe.
Einerseits fühlt er sich ausgelaugt, ausgesogen, als würde ein geisterhafter
Egel aus irgendeiner höheren Dimension die Kraft aus ihm fressen - und daher
kommen wohl auch die beängstigenden Visionen. Aber vor allem Federchens wegen
ist er diesmal bis zum Einbruch der Dunkelheit geblieben, denn während der
nächsten Tage wird sich alles Leben in Villafleur unter der Erdoberfläche
abspielen. Vierzehn Monate sind vergangen, seit die Rote Wolke das letzte Mal
über die Zentralstadt hinwegzog. Sie hat in dieser Zeit den ganzen Erdball
umrundet, und nun wird sie ein weiteres Mal den Himmel verdunkeln und feinen
radioaktiven Staub durch die menschenleeren Straßen und Gassen blasen. In den
hunderten von Jahren – so lange die Rote Wolke mit den Strömungen der Atmosphäre
um die Erde treibt – entstanden hunderte von Mythen, die das Geheimnis der
Herkunft dieser strahlenden Insel aus Staub und Nebel zu enthüllen meinten. Am
unsinnigsten erscheint Hyazinth die Behauptung, einst hätten die Menschen
gewaltige Vernichtungsmechanismen gebaut, und durch einen Energieausfall in
einem Sicherheitssystem seien Tausende dieser Geräte aus ihren Silos gestartet
und hätten große Teile der Erdoberfläche mit atomarem Feuer versengt. Nun, über
solchen Aberglauben kann Hyazinth nur lachen. Das hieße ja, die Menschen wären
dümmer als jedes Tier, und wie könnte eine Art, die zu solch einem Unfug fähig
ist, eine Idee wie die von der Großen Umkehr entwickeln? Viel wahrscheinlicher
ist doch, daß die Rote Wolke aus den Weiten des Weltalls kam und
unglücklicherweise die Bahn der Erde kreuzte. Auch Opal ist dieser Ansicht und
ebenfalls der Erste Exarch.
Die ungewöhnliche Dauer des
Abendspazierganges hat noch andere Gründe. Hyazinths Verstand wurde heute über
Gebühr gefordert, und er braucht Zeit, um all die auf ihn einstürmenden
Gedanken und Bilder zu verarbeiten.
Der Unterricht begann mit einem
Bericht aus Driftonas, der Oberstadt der pazifischen Region. Hyazinth verfügte
sich ohne sonderliche Erwartungen in seine Perzeptorzelle und streckte sich auf
der Liege aus. Als sich die Arretierungsklauen um seinen Leib, seine Gliedmaßen
und den Kopf schlossen, dachte er: Wie oft sollen wir uns dieses langweilige
Zeug denn noch ansehen? Und auch, als sich die mikroskopisch feinen, nur wenige
Moleküle starken Sonden zu Tausenden in seinen Körper senkten und ihm wie immer
eine Gänsehaut hervorriefen, sagte er sich, daß er diese Lehrveranstaltung ohne
schwerwiegende Folgen zugunsten eines Besuches im Peepshop hätte ausfallen
lassen können. Obwohl der Zutritt für Märtyrerschüler streng verboten
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