Copyworld: Roman (German Edition)
ist: Warum werden diese Berichte ohne Kommentar
gesendet? Opal hatte ihnen erklärt, es
sei wegen der Objektivität der Wahrheit. Ein Kommentar würde einen Sachverhalt
zwangsläufig subjektivieren, von einem Märtyrer aber könne man erwarten, daß er
imstande sei, sich ohne hilfreiche Belehrungen ein Bild zu machen. Hyazinth war
diese Antwort Anlaß zu vielen weiteren Fragen, die Zusammenhänge, Hintergründe
und ähnlich wichtige Informationen betrafen, die den Bildern nicht zu entnehmen
sind. Opal hieß ihn, sich in Geduld zu üben. Die Antworten würde er selbst
finden, früh genug.
Opal hatte recht. Während der
Airspider zu Boden schwebt, wird Hyazinth bewußt, daß gerade das Vorenthalten
wichtiger Informationen Grund für ihn war, zu suchen, zu forschen, also
Aktivität zu entwickeln. Wahrscheinlich ist genau das der Sinn dieser sparsamen
Nachrichtenübermittlung.
Der Airspider landet im Weichbild
der Oberstadt. Der Anblick schockiert Hyazinth: Das ist keine Stadt, sondern
ein Trümmerfeld. Einige der Ruinen wirken, als seien sie ausgebrannt. Schwarze
Rußstreifen ziehen sich die Mauern entlang, ganze Wände sind in sich
zusammengesunken und geben den Blick auf die Innenräume frei, die verkohlten
Bienenstöcken ähneln.
Die kühlen und einfachen Formen
der zwischen und aus den Ruinen wachsenden Bunkersilos, die allerorten die
Düsternis versteinerter Agonie überragen, verstärken nur den gespenstischen
Eindruck.
Und doch ist dieses Chaos nicht
ohne System. Deutlich sind die Spuren der hier immer noch lebenden Menschen zu
erkennen: Beiseite geräumter Schutt, Trampelpfade, die sich in seltsam
unlogisch scheinenden Windungen durch die Trümmerlandschaft schlängeln, aber
auch breite, glattgewalzte Strecken, die schnurgerade zwischen den Bunkersilos
des Projektes verlaufen. Und plötzlich nimmt Hyazinth eine Bewegung war, ein
Vorbeihuschen, schemenhaft und sogleich im Schatten eines Bunkerkolosses
erstarrend.
Dann sieht er eine ganze Gruppe.
Im Gänsemarsch kommen sie herbei, mit eigenartig gleichförmigen Bewegungen. Er
lacht trocken auf, als er seinen Irrtum begreift. Die Lebensspuren wirken wie
sanftes Licht, das die Düsternis erhellt, und wahrscheinlich dachte er deshalb,
sie könnten nur von Menschen hinterlassen sein, weil in einer Stadt
normalerweise Menschen leben. Was dort anmarschiert ist jedoch eine Gruppe von
pseudoorganischen Ochsen. Hyazinth kennt diese intelligenten Maschinen,
obgleich man sie in Villafleur nur selten zu Gesicht bekommt, dort ist ihr
Reich der Untergrund der Zentralstadt, mit seinen Versorgungs- und
Entsorgungseinrichtungen. Der seltsame Name rührt aus dem zwanghaften Bestreben
der Wissenschaftler, alles abzukürzen: Obedient Created Human Subject war die
ursprüngliche Bezeichnung des Forschungs- und Entwicklungsvorhabens. Daraus
ergab sich wie von selbst das Wort Ochs. Die offizielle Amtssprache nennt sie
Kreatiden, und während des Unterrichts dürfen die Märtyrerschüler auch nur den
amtlich genehmigten Begriff verwenden. Sonst aber spricht die ganze DTEA nur
von Ochsen.
Die Ochsen nehmen
Ordnungsfunktionen wahr und verrichten daneben alle die Arbeiten, die für die
Menschen zu gefährlich, zu monoton oder zu schmutzig sind. Manch einer fürchtet
sich vor diesen Gestalten, die nur deshalb dem menschlichen Äußeren
nachgebildet wurden, weil die Welt, in der sie Dienst tun müssen, für Menschen
geschaffen und eingerichtet ist. Dem haben sich die Maschinen zu fügen.
Die Furcht rührt wahrscheinlich
aus der Gewißheit, daß die Ochsen um ein Vielfaches besser in ihren
Denkfunktionen sind als ihre Schöpfer. Außerdem nehmen sie Polizeifunktionen
wahr. Angeblich wurden sie ursprünglich sogar als reine Polizeiandroiden
geschaffen. Aber drüber gibt es seltsamerweise keine allgemein zugänglichen
Informationen.
Hyazinth hatte einen fakultativen
Kurs in Exekutivandroidenanatomie belegt und mit einer fast an Sadismus
grenzenden Neugier zahllose dieser Geschöpfe zerstückelt, um deren Funktionen
bis ins winzigste Detail zu ergründen. Er hätte sich durchaus mit den
einschlägigen Dokumentationen begnügen können, wie die meisten Märtyrerschüler,
doch interessierten ihn weniger die Prinzipien und Ausgangszustände, als die
Evolution dieser Maschinengattung, die sich selbst unaufhörlich reproduziert
und optimiert.
Dabei entdeckte er Erstaunliches:
Ursprünglich bestanden die synthetischen Muskeln dieser Wesen aus Foliesträngen
von sehr langen Kettenmolekülen
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