Copyworld: Roman (German Edition)
ist.
Aber alles war vergessen, als die
Dunkelheit ihn verschlang und der vermeintliche Fall in bodenlose Tiefe hoch
über den Wolken endete. Offensichtlich befand sich der Transmitter in einem Airspider und flog in einem der
wenigen noch funktionsfähgen Permaringe, einem dieser gewaltige Kraftströme,
die wie Meridiane den Globus umspannen. Nicht das Gefühl des Fluges war es,
woran Hyazinth sich berauschte, sondern die Gewißheit – wenn auch nur scheinbar
– die Grenzen der Zentralstadt überschritten zu haben, die zu verlassen nur
sehr wenigen Märtyrern gestattet ist. Obgleich Hyazinth die Notwendigkeit
dieser Regel einsieht, kann er doch nur schwer den immer wieder aufflammenden
Wunsch unterdrücken, kreuz und quer durch die Kontinente zu reisen und die Welt
mit eigenen Augen zu sehen.
Aber die Sicherheit des Projekts
geht vor. Und Sicherheit des Projekts heißt: Kein Märtyrer darf irgendeiner
Gefahr ausgesetzt werden, denn sein Platz im großen Gefüge ist längst bestimmt
und darf nicht unbesetzt bleiben. So muß man sich eben damit begnügen, die
große weite Welt mit den Augen anderer zu sehen – in einer Perzeptorzelle. Es
ist ja wirklich so als wäre man dabei. Nur kann man nicht frei entscheiden und
wählen, wird wie ein Tanzbär der Urzeit am Nasenring gezogen und hat nur die
eine Möglichkeit: dem Bärenführer gehorsam hinterher zu stolpern. Trotzdem ist
es immer noch besser als gar nichts.
Der Airspider fliegt in einer
ballistischen Bahn. Gerade überquert sie das italienische Stiefelarchipel, eine
Kette bergiger Inseln, die irgendwann einmal eine zusammenhängende Landmasse
gewesen sein sollen. In der Ferne erkennt Hyazinth die beiden Gibraltarinseln,
die wie zwei Pflöcke mitten auf der Trennlinie zwischen Mittelmeer und Atlantik
liegen. Die Gewässer der Nordafrikanischen Seenplatte glänzen wie
Quecksilbertropfen im gelben Wüstensand, und deutlich sind die schaumgekrönten
Wellen im Suezmeer zu erkennen.
Dann geht der Flug weiter über
ein Gebiet mit seltsamen, beinahe kreisrunden Gewässern, die der Bekaa-See
vorgelagert sind. Angeblich sollen dies die Explosionskrater jener
geheimnisvollen Vernichtungsmechanismen sein, die vor hunderten von Jahren die
Rote Wolke zeugten. Aber das ist Unfug, dessen ist Hyazinth sich gewiß.
Wahrscheinlich handelt es sich um Bodensenkungen über ehemaligen Petrolkavernen
– die Gegend soll einst das Dorado der Erdöl- und Gasförderung gewesen sein,
wodurch riesige Hohlräume im Erdinnern entstanden sein müssen. Überhaupt eine
komische Sache, Öl aus der Erde zu pumpen, wo sich der Kohlenstoff doch viel
leichter aus der Atmosphäre gewinnen läßt.
Am Fuße des majestätischen
Himalayagebirges setzt der Airspider zur Landung an, nachdem über den
afghanischen Fjorden das Bremsmanöver eingeleitet worden war. Die Oberstadt
Driftonas ähnelt, aus der Luft gesehen, einem vielzackigen Stern, aber wenn man
genauer hinsieht, drängt sich einem der Vergleich mit einer Nervenzelle auf,
denn hunderttausende feiner Silberadern gehen von diesem Stern aus und
durchziehen das Land, kreuzen sich an knotigen Verdickungen, enden in seltsamen
Blasen. Dieses den ganzen Erdball umspannende Netz von Silberfäden – in
Wahrheit Leitungstrassen von mehreren hundert Metern Durchmesser – und Kuppeln,
Pilzen, Blöcken, die, aus der Nähe betrachtet, hochfest gepanzerte Bunkersilos
sind, hielt Hyazinth vor einiger Zeit noch für das gesamtirdische
Energieversorgunssystem.
Seit kurzem aber weiß er, daß
dies die Gestalt des Projektes Copyworld ist. Und seither ihm ist auch völlig
klar, daß solch eine gewaltige Schöpfung nur möglich ist, weil Leute wie er und
die anderen vielen Millionen Märtyrer in Weltenstein sich in eiserner Disziplin
einer festgefügten Ordnung beugen. Daß solche degenerierten Kreaturen wie die sogenannten Besinnler diese großartige Ordnung eine unmenschliche
Diktatur nannten, hatte ihn anfangs
verwirrt. Aber Besinnler gibt es nicht mehr...
Während des Sinkfluges erkennt
Hyazinth, daß die Gebäude der Stadt verfallen. Mitten aus den Ruinen aber
wachsen die gewaltigen Blöcke des Projektes. Es ist ein Anblick, der Hyazinth
erschauern läßt. Wie sich über die Trümmer des Veralteten, Überwundenen die
Insignien der Zukunft erheben, schmucklos aber unzerstörbar – das beeindruckt
ihn zutiefst.
In diesem Augenblick findet er
die Antwort auf eine Frage, die ihn seit langem beschäftigt, obgleich sie
verhältnismäßig unerheblich
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