Copyworld: Roman (German Edition)
aus Polyacrylsäure, von denen erst einige
tausend Einheiten das ganze Molekül bildeten. Natronlauge zog diese Molekülketten
zusammen, Salzsäure hingegen führte zu deren Streckung. Der Brennstoffbedarf
dieser Konzeption war erheblich. Die Autoevolution der Ochsen aber hatte einen
völlig neuartigen Muskeltyp hervorgebracht, der nur Süß- und Salzwasser
benötigte.
Vermutlich hat sich auch das
Gehirn dieser Maschinen weiter entwickelt. Doch darin sieht Hyazinth keinen
Anlaß zu primitiven Ängsten. Zu gut hat er die Evolution des menschlichen
Verstandes studiert, dieses Werkzeugs, das aus einem zwar komplizierten, aber
streng deterministischen Regelzentrum hervorging. So wie sich der Mensch nicht von seiner Herkunft befreien
kann, so wenig kann es auch die intelligente Maschine.
Oft wurde ihm entgegengehalten,
die Logik zwänge die überlegene Intelligenz der Ochsen, die vermeintliche
Unvollkommenheit der menschlichen Zivilisation durch die ideale Gesellschaft
von Kyberneten zu ersetzen. Welch ein Unfug!
Holunder sagte einmal, es sei die
unvergleichlich höhere Kreativität synthetischer Intelligenz, die dem Menschen
den Todesstoß versetzen würde, wenn man nicht auf der Hut sei. Da wurde
Hyazinth heftig und versuchte ihm klarzumachen, daß Schöpfertum Ausdruck des Menschseins wäre und nicht Ziel oder
Zweck, während Ochsen eigens dazu geschaffen worden seien, schöpferisch tätig
zu sein, um der Ziele willen, die letztendlich die Erhaltung der menschlichen
Art erfordert. Ochsen hätten keine Ochsenlogik, setzte er dem Freund
auseinander, könnten sie gar nicht haben, da sie keine eigene Geschichte
besäßen, sondern nur Bestandteil menschlicher Geschichte seien. Holunder
schüttelte nur den Kopf und verwies darauf, daß eines der schönsten Musikwerke
aller Zeiten von einem Ochsen geschaffen worden sei. Hyazinth schwieg verwirrt.
Die “Sinfonie vom Kommen und Gehen” war seine Lieblingsmusik, und ganz gewiß
hatte Holunder das gewußt. Bislang hatte er nie daran gedacht, daß dieses Werk
nicht Schöpfung eines Menschen, sondern eines Kunstwesens war. Diese Sinfonie
ging ihm direkt ins Herz, erforderte keinerlei Leistung des Verstandes, und
trotzdem – oder vielleicht gerade deshalb – klang sie jedesmal eine Nuance
anders, offenbarte ihm ihren Reichtum auch noch beim zehnten oder fünfzigsten
Male der Aufführung. Vor allem die Ouvertüre mit ihren düsteren, beinahe
kosmischen Klängen trug Hyazinth jedesmal wie ein Sturmwind davon. Er glaubte,
von der Macht der Musik Jahrmillionen zurückgeschleudert zu werden in Zeiten,
wo aus einem unvorstellbaren Knoten aus Raum, Zeit und Materie das Weltall
brach, auseinanderflog, der Zukunft entgegen. Die eine Kraft gebar, die
imstande war zu erkennen und zu bewahren und zu verändern. Dieses Motiv liebte
Hyazinth ganz besonders: Einfach, schwach anfangs und fast erstickend im Toben
der universalen Gewalten, überdauerte es alle Eruptionen des Werdens und wuchs
wie tief unter der Oberfläche eines sturmgepeitschten riesigen Ozeans zu einem
mächtigen Klang, der hier hartnäckig ankämpfte gegen das kosmische Tosen, dort
mit ihm zu erregender Harmonie verschmolz, aber unaufhörlich anschwoll.
Die Geburt des Menschen war ein
Beben, das gesamte Universum erschütternd. Das Motiv erhob sich wie ein Riese,
der aus dem Schoß des Dunkels steigt und staunend nach dem Himmel greift, aber
es riß den kraftvollen Rhythmus des ewigen Seins mit empor, statt ihn mit
seiner ehernen Metrik zu durchbrechen, und die Klänge wurden zu
schwindelerregenden Wogen einer nur noch erahnbaren Harmonie. Etwas verwundert
war Hyazinth, als Jade von einem in seiner Schlichtheit geradezu ergreifenden
Liebeslied sprach und Tagetes den Triumphmarsch rühmte, mit dem die Sinfonie
vermeintlich endete – für Hyazinth war es keine Verheißung des Sieges, sondern
eine von tiefer Trauer getragene Frage nach dem Morgen, einem Lied von Liebe
und Sehnsucht wohl ähnlich, vielmehr aber das Gefühl entsetzlicher Ungewißheit
vermittelnd. Später dann begriff er, daß Jade und Tagetes ebenso richtig
empfanden wie er selbst, und da erst wuchs in ihm etwas wie abergläubische
Scheu vor der Kunst, die mit einem Wort tausend Dinge zu nennen vermag, während
die Wissenschaft tausend Worte braucht, ein Ding zu beschreiben.
Holunder sollte Unrecht behalten.
Gemeinsam mit Jade analysierte Hyazinth – getrieben von eben jener Unruhe, die
der abrupte Schluß der Sinfonie in ihm hinterließ – den in der
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