Copyworld: Roman (German Edition)
muß man die Menschen
auf solch simple Weise betrügen, denkt er bitter, sie begreifen nur die
einfache Gestalt der Lüge – den Arabesken der Wahrheit zu folgen, sind die zu
dumm…
“Du fühlst dich anscheinend schon
ganz wohl auf diesem Platz, wie?”
Die knorrige, schroffe Stimme
läßt Hyazinth aus dem Schlaf schrecken. Mit einigem Entsetzen begreift er, daß
er im Sessel des Ersten Exarchen sitzt.
“Du schnarchst wie ein Herde
besoffener Rindviecher… Wie kommst du überhaupt hierher?”
Au verflucht! Wie konnte ihm das
nur passieren, wann verdammt noch mal ist er eigentlich eingeschlafen? Welcher
Teufel hat ihn geritten, sich ausgerechnet den Sessel des Exarchen als
Himmelbett zu erwählen? Automatisch wirft er einen Blick auf seinen Mio:
Sechsuhrdreißig. Dann springt er mit einem gewaltigen Satz auf und verbeugt
sich stotternd. “Ewige Liebe, Ddddeva; Beschöpfer, Beseher… äh…”
“Was hat das da zu bedeuten, bist
du des Wahnsinns?” Korund Stein deutet mit finsterer Miene auf Hyazinths Hüfte.
Dort baumelt das Futteral mit der Nadelpistole.
“Die Gefahr ist größer als du
ahnst, Deva!” beginnt Hyazinth hastig. Er redet und redet, die Worte sprudeln
wie ein Wasserfall. In groben Zügen entwirft er ein Bild vom Leben in Szingold,
macht den Exarchen auf den Widerspruch zwischen Realität und offizieller
Darstellung aufmerksam.
“Zuerst glaubte ich, die
Entartung äußere sich im geistigen Bereich – aber es ist ganz anders Deva: Du
wirst belogen! Wir alle werden belogen, einschließlich der Bürger von Szingold!
Es existiert eine mächtige Verschwörung, die es mit geschickter Manipulation,
mit Propaganda, Lüge und Betrug geschafft hat, die Bevölkerung der DTEA gegen
Weltenstein aufzuhetzen…”
Er berichtet von der
Antisteinistischen Revisionsfront, vom Angriff auf die Festung Van Zyl und von
seiner gräßlichen Entdeckung.
“Es gibt keine Digitalisierung,
Deva! Alles ist Lüge! Die Gehirne der Omegaschläfer sind nichts weiter als der Rohstoff für Copyworld . Die
Menschen sind Diener von Copyworld , nicht umgekehrt. Verstehst du nun, weshalb
ich heimlich in dein Arbeitszimmer eindrang, weshalb ich bewaffnet bin?”
Korund Stein steht wie zu Eis
gefroren. In seinem Gesicht ist ein furchterregender Ausdruck.
Schließlich, nach einer Zeit, die
Hyazinth unendlich schien, sagt er: “Komm! Es ist soweit, du mußt nun die ganze
Wahrheit erfahren.”
Sie benutzen den geheimen
Schwebeschacht und die private Labyrinthbahn des Ersten Exarchen. Während der
Fahrt spricht Korund Stein kein Wort, dafür mustert er Hyazinth mit Blicken, in
denen sich Mißtrauen und Hoffnung, Zuneigung und Verärgerung spiegeln.
Hyazinth wagt nicht,
unaufgefordert zu reden. Er hat alles gesagt, was zu sagen war. Zwar hätte er
gern nach einigen Kleinigkeiten gefragt, wie etwa nach dem Licht im Zimmer des
Exarchen, aber dies verbietet der Respekt. Vor allem aber wüßte er gern, was es
bedeutet: Die ganze Wahrheit erfahren. Was meinte der Erste Exarch mit diesen
dunklen Worten?
So unwesentlich es auch ist
angesichts der Geschehnisse, die ihn nach Weltenstein zurückführten – die ganze
Zeit kreist die Frage in seinem Kopf, weshalb der Sensor auf seine Handlinien
reagiert hat. Aber Hyazinth schweigt ehrfürchtig, denn alles ist gesagt. Es
wäre nicht nur unhöflich, sondern geradezu kindisch, den Exarchen mit solch
unwichtigem Kram zu behelligen.
Die Kabine hält in der
Gesundheitswache. Mit nicht geringem Unbehagen erinnert sich Hyazinth an
Rhomegas Hinweis, der Wächter befände sich unter Kontrolle der Antisteinisten,
Hyazinth habe also nichts zu befürchten. Ob diese Kontrolle bis hinter die
Bunkerwände der Gesundheitswache reicht?
Die Tür der Transferkammer öffnet
sich, eine Frau kommt ihnen entgegen, mit gefalteten Händen und gesenktem Kopf.
“Ewige Liebe, Deva…”
Als sie den Blick hebt, begegnet
Hyazinth einem merkwürdigen Strahlen, das wie von einer tief in den
mandelförmigen Augen lohenden Glut ausgesandt scheint. Das dicke blauschwarze
Haar ist zu hunderten Zöpfchen geflochten, die wie Stacheln vom Kopf abstehen.
“Tante Sirrah!” schreit er
erfreut und läuft zu ihr.
“Mein Zintchen…” Sie schließt ihn
in ihre Arme.
“Du bist gewachsen!” sagt sie
erstaunt. “Ich reiche dir ja kaum noch bis ans Kinn. Solltest du doch noch ein Kind gewesen sein, als wir uns das letzte Mal sahen?”
Hyazinth verbirgt sein Gesicht
zwischen den Stachelzöpfchen und
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