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Copyworld: Roman (German Edition)

Copyworld: Roman (German Edition)

Titel: Copyworld: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Szameit
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verändert, eine Weile
fragt Hyazinth sich vergeblich, was es wohl sein könnte. Dann auf einmal
begreift er: Anfangs war es totenstill, nur der Wind strich sanft über die
Trümmerlandschaft, fuhr ständig zwischen die gigantischen Bunkerblöcke. Jetzt
aber ist deutlich ein entferntes Brausen zu hören, wie von einer
vieltausendköpfigen Menschenmenge. Erneut befällt Unruhe die Ochsen. Nirgends
sind noch Spuren von Verfall und Zerstörung zu entdecken, überall glatte, ebene
Flächen, von einer Glätte, die Jahrmillionen überdauern soll. Aber gerade diese
sterile Starre wirkt bedrückend. Wuchtig und kantig ragen die Blöcke wie zu groß
geratene Grabsteine aus der ausgelaugten Erde. Hyazinth schaudert bei diesem
Gedanken. Tatsächlich, bald wird die Erde wie ein riesiger Friedhof aussehen,
nur diese steinernen Kolosse werden die Erinnerung an die Menschheit bis in
fernste Zeit tragen. Doch wie gering ist dieser Preis angesichts der Zukunft,
die ihn fordert!
    Mit einem Male endet die Straße,
und vor ihnen liegt ein großer, mit anscheinend neu errichteten Gebäuden
gesäumter Platz. Trägerkerne für Wohnblasen spiegeln das Licht der steigenden
Sonne, polygonale Flachbauten mit seltsam gewellten Dachkonstruktionen wuchern
in den Lücken zwischen den Türmen, auf beinahe jeder ebenen Fläche flimmern
Leuchtschriften.
    “Gestern schufen wir das Heute,
heute schaffen wir das Morgen – morgen aber sind wir ewig!” liest Hyazinth.
Gleich darunter flackert das Wort des Meisters in eindringlichem Rhythmus:
“Vergangenes soll man nicht tadeln… Vergangenes soll man nicht tadeln…
Vergangenes soll man nicht tadeln…”
    Alles aber wird überstrahlt von
einem Satz, der in himmelhohen Lettern über einer glänzenden Kuppel mitten auf
dem Platz zu schweben scheint: “Leben ist Pflicht – Unsterblichkeit Lohn!”
    Auf dem Platz wimmelt es von
Menschen. Hunderttausende müssen es sein, die sich dort in einer vielreihigen
Schlange zusammendrängen und langsam auf die Kuppel vorrücken.
    Einen kurzen Augenblick überkommt
Hyazinth Bitterkeit. Da drängeln und stoßen sie sich vor dem Tor zum ewigen
Leben – er aber darf nicht daran denken und nicht fragen nach den Gründen für
das Märtyreropfer. Nicht einmal Traurigkeit darf er zeigen, sondern muß noch
stolz darauf sein, mit der Gewißheit des Todes zu leben, während andere zu
Millionen täglich die Pforten zum unendlichen Glück durchschreiten…
    Immer wieder hat er versucht,
diese quälende Frage aus seinen Gedanken zu verdrängen, getreu der Forderung,
nicht zu zweifeln an der tiefen Wahrheit der Lehre. Nun aber brüllt es in ihm
mit aller Macht: Warum muß ich meinem Omegatag entgegengehen?! Weshalb dürfen
Opal und ich, der Erste Exarch und Jade, Rutila, Holunder, Tagetes, Narziß und
all die anderen nach getaner Arbeit nicht ebenso das Tor zur Unsterblichkeit
durchschreiten? Wenn einst alle Bürger der Demokratischen Terranischen
Einheitsassoziation digitalisiert sind, könnten doch auch die Märtyrer in die
intellektronische Ewigkeit gehen. Was für einen Sinn hat diese unmenschliche
Märtyrerpflicht?
    Hyazinth zwingt sich gewaltsam
zur Disziplin. Mit einem Beben, das der hämmernde Herzschlag in sein Denken und
Fühlen schickt, spricht er hastig das zweite Generalgebot: Du sollst alle
Zweifel an der Lehre aus dir reißen, denn sie verwirren dein Denken!   Unentwegt wiederholt er diese Worte, bis sein
Herz wieder ruhig schlägt und die Gewißheit, im Schoße des Martyriums Geborgenheit
und Erfüllung zu finden, die kleinmütige Regung seines Unterbewußtseins
besiegt.
    Der Blick des Transmitters hängt
wie gebannt an einer Gruppe von Leuten, die wie zufällig etwas abseits, näher
am Beobachter stehen und ihm unbeholfen zuwinken.
    Hyazinth mißt dem Umstand
keinerlei Bedeutung bei, daß eine lose Kette von Ochsen diese kleine Schlange
vom übrigen Gewimmel abschirmt. Eigentlich nimmt er das kaum wahr, denn die
furchtbaren Entstellungen dieser Menschen fesseln seine Aufmerksamkeit mit
einer teuflischen Macht. Mißgestaltete Gesichter, fehlende oder unvollständige
Gliedmaßen, aber auch bizarre Doppelbildungen – groteske Verzerrungen
menschlicher Erscheinung, eine höhnische Bestrafung Unschuldiger für die
Vergehen ihrer Vorfahren, die sorglos mit dem eigenen genetischen Material experimentierten.
Alle paar Jahre zwangen sie ihren Organismus in eine völlig neue, noch
modernere Form, wie Amöben änderten sie ihr Aussehen, und schließlich waren sie
auch

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