Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Copyworld: Roman (German Edition)

Copyworld: Roman (German Edition)

Titel: Copyworld: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Szameit
Vom Netzwerk:
Kerzen
heruntergebrannt waren und ihre Hand sich steif und kalt anfühlte. Und wären
nicht ihre letzten Worte gewesen – die Trauer hätte ihm auch Andel nehmen
können. Aus der Liebe zu Curdin sei ihre Liebe zu ihm gewachsen, hatte die
Mutter – kaum hörbar – noch geflüstert. Männern wäre dieses Geheimnis auf ewig
verborgen, aber sie sollten es als einen großen Schatz hüten und beschützen,
ihm überall und immerzu dienen.
    Derek hätte nie entscheiden
müssen, ob die Liebe des Blutes oder die des Geschlechtes größer sei – wenn
Rorik es nicht getan hätte.
    Es war ihre letzte Begegnung im
Palast. Noch wußte niemand, daß Rorik seinen eigenen Bruder erschlagen hatte,
noch lag Curdin einsam sterbend am Fuße des Berges Attanai, wo die königlichen
Brüder gemeinsam dem Säbelzahneber nachgestellt hatten. Rorik hatte behauptet,
sie hätten sich verloren, als Curdin einem weißen Keiler hinterherjagte. Er war
nervös und fahrig, schließlich rief ihn Egle, die Mutter der beiden, zu sich in
ihre Kemenate. Ihr Schrei flog wie eine verwundetet Schwalbe durch die Hallen
und Säle des Palastes. Selbst der Teufel Rorik hatte es nicht fertiggebracht,
der eigenen Mutter ins Gesicht zu lügen, als sie die Wahrheit forderte.
    Als Derek hinzulief, hastete
Rorik an ihm vorbei, seltsam steif und wankend, blieb kurz stehen und
schüttelte wie im Krampf die goldblonden Locken.
    “Es sind die Tränen, lieber
Neffe”, keuchte er und starrte an Derek vorbei in eine unendliche Ferne, “die
Tränen scheiden die Liebe des Blutes von der des Geschlechts...”
    Hätte Rorik nicht diese für Derek
damals unheimlichen und unverständlichen Worte gesprochen, wären dem die
feuchten Spuren auf den Wangen des Oheims wohl kaum aufgefallen. Erst viel
später begriff er, als Aja seinen Kopf zärtlich gegen ihre schlaffe Brust
preßte, mit sanften Worten seinen Haß auf den Mörder nährte und mit sanften
Händen die Tränen aus seinem Gesicht wischte. Damals begriff er mit einer
Klarheit, die ihn beinahe entsetzte: Andel hätte diese Tränen nie gesehen, sein
Mannesstolz wäre stärker geblieben...

 
    “Und nun berichte: Wie war es auf
dem Berge Attanai?” fragt Aja leise, wohl spürend, welche Gedanken Derek
plagen. Immer noch streichen ihre dürren Finger liebevoll über sein Gesicht,
und immer noch spürt Derek in dieser zarten Geste den ehernen Willen, der Aja
seit dutzenden von Jahren den Kampf gegen den Tod bestehen läßt.
    Über hundertzwanzig Sommer haben
die matten Augen in diesem Gesicht, das wie ein Gewirk aus Eis und Wind ist,
schon gesehen, denkt er. Über hundertzwanzig frostklirrende Winter – und erst
Roriks Tod wird ihr die Ruhe geben, die ein Mensch für den Abschied von dieser
Welt braucht. Für tausende von Leben kämpfe ich, und für diesen einen Tod, für
diese eine Erlösung.
    Als Derek von seinen Erlebnissen
auf dem Berge Attanai berichtet, wird Aja zusehends unruhiger.
    Schließlich ächzt sie auf, als er
erzählt, wie der besiegte Holl ihn an die Felswand führte, zu seinem Horst.
    “Wo hast du das Ei? Hol es her,
sofort!” befiehlt sie mit einer Schärfe, die er ihrer Stimme nie und nimmer
zugetraut hätte.
    “Und er hat dich nicht
angegriffen, nicht ein letztes Mal versucht, dich zu töten, in den Abgrund
hinabzureißen?”
    Derek verneint energisch.
    Vorsichtig legt Derek das Hollei
auf den Boden und wickelt es aus.
    “Nimm es”, sagt sie. Derek will
zugreifen, zuckt aber gleich zurück.
    “Es ist heiß Aja, ich werde mich
verbrennen.”
    Aja erhebt sich mühsam und wehrt
schnell ab, als Derek ihr helfen will. Sie hebt die Arme und Derek sieht, wie
die Zeit ihr schwarzes Kleid zu einem feinen Nebel verdünnt hat: Es ist, als
ginge ein unsichtbares Leuchten aus vom dampfenden Ei, ein Licht, das nicht mit
den Augen, sondern nur mit den Gedanken wahrnehmbar ist. Ajas ausgemergelter
Körper erscheint als diffuser Umriß unter dem Wallen und Wogen ihres Kleides,
das ein gespenstischer Wind zu bewegen scheint.
    “Nimm es!” befiehlt sie
gebieterisch.
    Seine Arme gehorchen ihrem
Befehl, ihm ist als beherrsche ein fremder aber übermächtiger Wille seinen
Leib.
    Es ist nicht heiß.
    Aja tritt ihm gegenüber und sagt:
“Erhebe dich, Großherr Derek.” Ein wenig verwundert steht Derek auf, das
dampfende Hollei in den Händen.
    Da reißt sie ihm das Gewand Laux
direkt über der Brust auf und ruft: “Nimm es an dein Herz, Großherr Derek!
Nimm das Kind des Holls vom Attanai, sei ihm ein Freund

Weitere Kostenlose Bücher