Coq 11
Straßenname war überall mit Farbe beschmiert und nicht zu erkennen. Er fragte sich, wie dieser offenbar unbeliebte Name lauten mochte. Wladimir-Putin-Straße?
Kurz vor der kleinen Querstraße, deren Namen man sich so gut merken konnte, Rybnyj Projesd – Fischgasse –, hatte es früher eine Eislaufbahn gegeben. Am einen Ende hatten Kinder Eishockey gespielt und am anderen ältere Paare Arm in Arm ihre würdevollen Runden gedreht. Russland war aus beruflichen Gründen immer sein Feind gewesen. Umso merkwürdiger, dass er so vieles hier liebte. Einer der besten Freunde, den er je gehabt hatte, war russischer Nachrichtenoffizier gewesen. Inzwischen war er hoffentlich pensioniert und vertrieb sich die Zeit beim Jagen und Angeln in seinem geliebten Sibirien.
Mutter Russland verführte unweigerlich zu Sentimentalitäten. Er schämte sich ein wenig dafür, genau wie ihm seine Vorliebe für Tschaikowski peinlich war.
Sie wohnte immer noch dort oben hinter den erleuchteten Fenstern im vierten Stock in der Rybnyj Projesd. Er hatte seinen Besuch angekündigt, konnte aber unmöglich vorausahnen, in welcher Stimmung sie ihn empfangen würde. Keine Russin um die fünfzig hätte einem Nachrichtenoffizier eine höfliche Bitte abgeschlagen. Außerdem hatte er so großen Einfluss auf ihr Leben genommen, dass er das ungeschriebene Recht hatte, sich ihr jederzeit aufzudrängen, zumindest nach den alten Regeln des Kalten Krieges.
Aber Murmansk war ganz offenbar nicht mehr dasselbe wie vor zehn Jahren. Oder war es schon zwölf Jahre her? Vermutlich hatte er sich auch verändert.
Möglicherweise war es nur russische Sentimentalität, die ihn ausgerechnet zu ihr führte. Wenn sie Nein sagte, war das keine Katastrophe. Dann konnte man die Sache als kleinen Höflichkeitsbesuch abhaken. Sie hatte damals einen unvergesslichen Eindruck auf ihn gemacht: Dozentin Jelena Mordawina, Chirurgin im Zentralkrankenhaus von Murmansk, verheiratet mit Kommandant Alexej Mordawin, der einen verdienten Tod gestorben, dessen Gründe ihr gleichwohl immer unverständlich geblieben waren.
Das Licht im Treppenhaus funktionierte noch immer nicht. Vielleicht war es nur Zufall, womöglich aber auch ein Zeichen, dass sich gewisse Dinge nie änderten.
Fast auf die Sekunde genau zum vereinbarten Zeitpunkt klopfte er an die Tür, eine Art Berufskrankheit. Als sie öffnete, war sein erster Gedanke, dass sie sich nicht so verändert hatte, wie er es bei einer Russin erwartet hätte. Um etwa zwanzig Kilo hatte er sich verschätzt. Ihre Gestalt war schlank und elegant. Auch ihr Haar hatte nichts von seiner Fülle verloren, noch immer hing es ihr in einem dicken blonden Zopf über den Rücken. Das wiederum passte. Geschminkt oder fein gemacht hatte sie sich für ihn nicht.
»Frau Mordawina, was für eine Freude, Sie zu sehen«, begrüßte er sie mit aufrichtiger Freude.
»Es ist mir eine Ehre, Sie wiedersehen zu dürfen, Herr Admiral«, antwortete sie viel zurückhaltender.
Er hängte seinen Mantel selbst an einen Garderobenhaken und folgte ihr ins Wohnzimmer. Viel hatte sich nicht verändert. Die Wohnung war in einer anderen Farbe gestrichen und hatte neue Heizkörper, und die weißen Ledersofas aus Koljas Zeit waren inzwischen, wie zu erwarten, etwas angegraut. Sie hatte Tee auf den Couchtisch gestellt.
»Warum um alles in der Welt statten Sie mir nach all diesen Jahren einen Besuch ab, Herr Admiral?«, fragte sie, während sie ihm die Zuckerschale hinüberreichte. »Geht es um das Geld …?«
Er unterbrach sie, indem er die Hände in die Höhe hielt. Sie verstummte augenblicklich, weil sie aus der Geste schloss, sie würden abgehört.
»Nein, Frau Mordawina«, sagte er. »Wir werden garantiert nicht abgehört. Da wir gerade beim Thema sind: Haben Sie noch etwas übrig von dem Geld?«
»Ja«, antwortete sie wachsam. »Ich habe noch viertausenddreihundert Dollar. Wie viel haben Sie von den fünfzigtausend übrig, die Sie genommen haben, Herr Admiral?«
»Keine Kopeke«, seufzte er zweideutig. »Ich habe die gesamte Summe meinem Freund Generalleutnant Jurij Tschiwartschew von der Rasvedka überlassen. Was er mit dem Geld gemacht hat, weiß ich nicht, aber seien Sie unbesorgt, Frau Mordawina: Ich bin nicht gekommen, um diese alte Geschichte aufzuwärmen.«
»Das freut mich. Ein Dollar ist nicht mehr das, was er einmal war, nicht einmal in Russland.«
»Stimmt. Aber unser Gespräch ist auf Abwege geraten. Wie geht es Sascha und Pjotr?«
»Sie erinnern sich
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