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Coq Rouge

Coq Rouge

Titel: Coq Rouge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jan Guillou
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anderen Ende in der Nähe des Tempelbezirks hinauszukommen. Er ging weiter in Richtung Gethsehmane. Dort unten in der Talsenke lag ein kleines Haus, von dem behauptet wurde, es berge das Grab Marias. Dort angekommen, verließ Carl die Straße und stieg den Ölberg hinauf. Er ging zwanzig Minuten unter Büschen und Bäumen weiter, bis die Dunkelheit sich öffnete und er bei einem Olivenhain angelangt war.
    Er machte seine Tasche auf und entnahm ihr einen Regenmantel, den er auf der Erde ausbreitete. Dann setzte er sich mit dem Rücken an einen Ölbaum und wartete. Niemand würde sich ihm nähern können, ohne daß er es hörte.
    Kein Mensch war in der Nähe, aber die Aussicht war großartig.
    Unter ihm breitete sich das klassische Jerusalem aus. Die große goldene Kuppel der Omar-Moschee, die kleinere Silberkuppel der Al-Aqsa-Moschee, der Turm der Grabeskirche, die Stadtmauer und einige Bauwerke, die er nicht identifizieren konnte, wurden von Scheinwerfern und Fassadenleuchten angestrahlt. Dieser Anblick symbolisierte einen fast siebzig Jahre währenden modernen Krieg. Er spiegelte den Kern der Gegensätze wider, die den Nahen Osten in permanentem Kriegszustand hielten. Yerushalaim, die Stadt, von der die Juden jetzt behaupteten, sie hätten sie für immer erobert; AI Quds, die ebenso heilige Stadt der Moslems, die zurückzuerobern sie geschworen hatten. Von hier aus spannte sich der Krieg wie ein riesiges Geflecht grober und feiner Drähte über die ganze Welt, und am Rand des Netzes hatte einer dieser Fäden einen gewissen Polizeipräsidenten Folkesson in Stockholm erreicht, was zu einem Mord geführt hatte; zwar nur zu einem einzigen kleinen Mord, aber einem schwedischen. Die Omar-Moschee dort unten war rund sechshundert Jahre nach der Zerstörung des jüdischen Tempels durch die Römer errichtet worden, die nach der Eroberung der Stadt einige zigtausend aufrührerische Juden in andere Provinzen Roms deportiert hatten, um den ewigen Unruhen in den judäischen Kolonien ein Ende zu machen; diese Deportierten waren den Legenden zufolge zum Volk in der Diaspora geworden, das seitdem sein Gebet und seinen Gruß Nächstes Jahr in Jerusalem sprach. Nach der Wiedereroberung des Landes und der Vertreibung einer weit größeren Zahl von Palästinensern wollten diese jetzt die nächsten hundert Jahre damit zubringen, den Sieg Salah Eddins über die Kreuzfahrer zu wiederholen, und damit würde es wieder von vorn beginnen können.
    Und irgendwo dort unten im Lichterglanz des jüdischen Teils der Stadt oder in der Dunkelheit unter den Kuppeln des arabischen Stadtteils lebte vielleicht der Mörder, den Carl Gustaf Gilbert Hamilton, Reserveleutnant der schwedischen Marine, jetzt suchte.
    Das war eine bizarre Vorstellung, ein unmögliches Vorhaben. Carl zog seine grüne, dick gefütterte Militärjacke enger und saß still und traumlos da, betrachtete die Lichter und lauschte der Stille auf dem Ölberg. Ihm kam plötzlich der Gedanke, daß Jesus vielleicht hier seine letzte Nacht verbracht hatte, bevor man ihn in die Stadt hinunterführte und ans Kreuz schlug. Die Stunden verstrichen, als säße Carl bei der Jagd auf Anstand.
    Kurz nach Anbruch der Morgendämmerung stand er mit steifen Gliedern auf, holte Rasierzeug und Rasierwasser hervor und machte eine kurze Morgentoilette. Er fand einen Pfad, der den Berg hinunterführte, und nur eine Viertelstunde später ging er durch eines der neugebauten Vorortviertel, mit denen die Israelis den arabischen Stadtkern umringt hatten. Es wurde immer noch viel gebaut. Überall lagen Stapel von Armierungseisen, Reste von Baumaterial und gestapelte Leichtbetonblocks, Bretterhaufen, Lehmpfützen, verrostete Maschinen oder Maschinenteile, gestapelte oder bunt durcheinandergewürfelte zerschlagene weiße Kalksteinblocks, die für die Fundamente der Hausfassaden verwendet werden sollten.
    Carl gelangte zu dem neueren Teil des arabischen Stadtviertels, fand in der Salah ed-Din Street ein offenes Cafe, trank Kaffee und aß dazu ein paar arabische Hörnchen. Er gab einem halbwüchsigen Jungen einen Dollarschein und bat ihn, ein Taxi zu holen. Carl hatte noch fünfundvierzig Minuten Zeit, bis er den Bus nach Beersheba-Eilat fünf Kilometer und zwei Haltestellen von dem großen, zentralen Busbahnhof entfernt erreichen mußte. Er ging auf die Toilette, putzte sich die Zähne und betrachtete sich kurz im Spiegel. Äußerlich unterschied er sich nicht sonderlich von anderen Männern seines Alters in Israel.

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