Corbins 03 - Wer dem Zauber der Liebe verfaellt...
So unglücklich wie heute hatte sie sich in ihrem ganzen Leben noch
nicht gefühlt. Natürlich hatte sie gelitten, als ihre Mutter dem Wahnsinn
verfiel, ihr Vater ihre Briefe nicht beantwortete und sie merkte, daß Derora
Beauchamp, die einzige Schwester ihrer Mutter, sie zwar tolerieren, aber nie
lieben würde ... Aber die tiefe Niedergeschlagenheit, die sie seit ihrer
Begegnung mit Joel Shiloh empfand, war etwas völlig anderes. Es war eine
brennenende, bittersüße Melancholie, und sie wußte ganz instinktiv, daß diese
>Krankheit< noch viel schlimmer werden mußte, bevor sie geheilt werden
konnte. Falls sie je geheilt werden würde.
Drei
Allein in seinem Zimmer, nahm Keith die
Kette von seinem Hals und betrachtete den goldenen Ring, der daran befestigt
war, und die Inschrift, die ihm inzwischen als solche Ironie erschien: >Für
immer und immer, Amelie<.
Er schloß die Finger um den Ring und
setzte sich auf die Bettkante. Wie kurz für immer doch sein konnte! Wie
schrecklich kurz.
Das geschäftige Treiben im Haus war
ein Zeichen, daß der Vortrag wohl bald beginnen würde; Kutschen und Wagen
fuhren seit einer halben Stunde vor, und man hörte das aufgeregte Plaudern
heller Frauenstimmen. Keith schüttelte lächelnd den Kopf und rieb die schmerzende
Stelle an seiner Wade, wo Tess ihn gebissen hatte.
Doch das Lächeln verblaßte schnell.
Der Biß war etwas, womit er leben konnte; der Gedanke, daß Tess der freien
Liebe frönte, etwas ganz anderes. Du lieber Himmel, sie konnte es doch nicht
ernst gemeint haben, oder? Glaubte sie wirklich, die Probleme der Menschheit
wären auf solch einfältige Weise zu lösen?
Es war möglich. Immerhin war sie
erst achtzehn Jahre alt, noch jünger als seine Schwester Melissa, und sehr naiv
und verwundbar, eine reife Frucht für jeden, der sie pflücken wollte.
Ein schrecklicher Zorn erfaßte Keith
und veranlaßte ihn aufzuspringen. Ihm schwindelte vor Erregung, und der Magen
drehte sich ihm um bei dem Gedanken, Tess könne sich jedem Dick, Harry und Tom
hingeben — und nur aus einer völlig falsch verstandenen Philosophie heraus!
Keith holte tief Atem und setzte
sich wieder. Sie hatte behauptet, die freie Liebe bereits praktiziert zu haben.
Aber wenn das stimmte, warum war dann heute morgen in seinem Lager nichts
passiert?
Er hätte mit ihr in den halbdunklen
Wagen gehen, ihre hübschen, festen Brüste entblößen und sie auf seinem schmalen
Bett nehmen können ... Denn nun war ihm klar, daß er es auf Tess' leiseste
Ermutigung hin getan hätte, trotz seiner guten Vorsätze.
Nicht einmal das Wissen, daß sie
jünger war als seine eigene Schwester, änderte etwas daran. Mit achtzehn war
sie eine junge Frau, kein kleines Mädchen, und er begehrte sie mehr, als er je
zuvor eine Frau begehrt hatte. Nicht einmal nach seiner eigenen Braut hatte er
ein derart heißes Verlangen verspürt.
Zögernd berührte er den Ring, den
Amelie ihm nur Momente vor ihrem Tod über den Finger gestreift hatte, und die
tragische Szene erstand wieder vor ihm — die Trauung im Pfarrgarten von
Wenatchee, die Anwesenheit seiner Familie und seiner Freunde, der Alptraum der
Explosion und all das Entsetzliche, das darauf gefolgt war.
Amelie war auf der Stelle tot gewesen.
Selbst jetzt, nach all der Zeit, die verstrichen war, glaubte Keith noch die
Schreie der verletzten Menschen und Pferde zu hören, glaubte den scharfen
Dynamitgeruch zu spüren und die reglose, in weißen Tüll gekleidete Gestalt auf
der Erde zu sehen.
Keith' Augen wurden feucht, und er
strich sich mit dem Handrücken über das Gesicht. Er wollte nicht an die
Hochzeit denken. Und auch nicht an Amelie. Aber auch Tess Bishop und die
Tatsache, daß er gern mit ihr ins Bett gegangen wäre, waren jetzt kein Thema.
Sie war nicht so wie die Frauen, die er in den vergangenen Monaten besessen
hatte.
Sie war nicht so, und sie würde nie
so sein. Dieses Gerede über freie Liebe war nichts als Geschwafel, mit dem sie
ihn zu überzeugen versuchte, daß sie kein Kind mehr war.
Keith zog den dunklen Rock über, den
eine sehr entgegenkommende Derora Beauchamp gebürstet und aufgebügelt hatte,
nahm seine Geldbörse heraus und zählte die Scheine darin. Wenn seinem Geschäft
mit der Wundermedizin nicht bald Erfolg beschieden war, mußte er sich einen
Job suchen. Es wäre zu riskant, noch einmal seiner Bank in Port Hastings zu
telegrafieren. Es war möglich, daß seine Brüder seine Taktik inzwischen
durchschaut hatten, und dann würde es ihnen
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