Corbins 03 - Wer dem Zauber der Liebe verfaellt...
verströmten einen
angenehm süßen Duft.
Trotz der merkwürdigen Gefühle, die
sie fast die ganze Nacht wachgehalten hatten, mußte Tess sich sehr zusammennehmen,
um nicht zu lachen und zu singen vor lauter Lebensfreude.
»Guten Morgen«, grüßte eine
vertraute Stimme.
Tess blickte verwundert auf und sah
Mister Waltam, der auf dem Bürgersteig kniete. Ihr Fahrrad lag vor ihm auf dem
Boden, und er war damit beschäftigt, das krumme Vorderrad zurechtzubiegen.
»Guten Morgen«, antwortete sie. »Was
machen Sie da?«
Er zog mit beiden Händen an dem
Draht und richtete sich dann befriedigt auf. Seine Finger waren ölverschmiert,
und sogar auf seinem eleganten Hemd war ein dunkler Fleck. »Ich habe das
Vorderrad gerichtet. Es ist doch Ihr Fahrrad, oder?«
Tess nickte erstaunt. Roderick
Waltam sah nicht wie ein Mechaniker aus, aber das Rad hatte er erfolgreich
repariert. »Vielen Dank, Mister Waltam.«
»Nicht so schnell«, sagte er in
scherzhaftem Ton, während er seine Finger an einem Taschentuch abwischte.
»Meine Dienste haben einen Preis.«
»Und der wäre?« erklang eine weitere
männliche Stimme direkt hinter Tess.
Überrascht drehte sie sich um und
sah Joel mit verschränkten Armen hinter sich stehen, den Hut schräg in die
Stirn gezogen. Der elegante Rock vom Vorabend war verschwunden; heute trug er
wieder ganz normale Hosen, eine Weste und ein geflicktes Hemd.
»Eine Fahrt auf Ihrem Rad«,
antwortete Roderick Waltam gelassen und hielt Joels Blick stand, was er am
Abend zuvor nicht gewagt hatte. Vielleicht hatte die Nacht mit Derora ihn
mutiger gemacht ...
Tess ahnte, daß die beiden Männer
über etwas ganz anderes sprachen als über ihr Rad. Da sie jedoch nicht die
geringste Ahnung hatte, was es war, richtete sie den Blick fragend auf Joel.
Ein Muskel zuckte an seinem Kinn, und er preßte die Lippen zusammen, als müsse
er sich sehr beherrschen.
Die Luft war plötzlich wie
aufgeladen; die beiden machten drohend einen Schritt aufeinander zu. Wer weiß,
was geschehen wäre, wenn Derora nicht in diesem Augenblick in einem
lavendelfarbenen Morgenrock auf der Veranda erschienen wäre.
»Tess, Liebes!« rief sie freundlich.
»Es wird Zeit, daß wir in die Kirche gehen!«
Kirche. Tess schüttelte den Kopf.
Derora war alles andere als fromm, doch immer, wenn sie am Samstagabend einen
Herrn zum Bleiben bat, besuchte sie am Tag darauf die Messe.
»Ich gehe nicht mit«, antwortete
Tess mutig. »Ich habe Kopfschmerzen.«
Derora wollte etwas entgegnen, aber
Roderick hielt sie davon ab, indem er lächelnd auf sie zuschritt. »Es wäre mir
eine Ehre, Sie zu begleiten«, sagte er in einschmeichelndem Ton, und Derora
vergaß prompt ihre Pflichten. Lächelnd nahm sie Rodericks Arm und verschwand
mit ihm im Haus.
»Es wäre mir eine Ehre, Sie zu begleiten!« äffte Joel
Roderick wütend nach.
Tess versteifte sich.
Erstaunlicherweise hatte sie seine Anwesenheit für einen Moment vergessen. Sehr
unklug von ihr, denn nun war sie ganz allein mit ihm. »Sind Sie eifersüchtig,
Mister Shiloh?« fragte sie übertrieben freundlich. »Denn falls es so ist, würde
ich Ihnen empfehlen, meine Tante und Mister Waltam auf ihrem Kirchgang zu
begleiten.«
Joel sagte nur leise etwas sehr
Unfeines.
In der Absicht, eine kleine
Spazierfahrt zu unternehmen, ging Tess zu ihrem Rad. Mit ein bißchen Glück
würde sie diesmal keinem Hausierer dabei begegnen.
Doch Joel hielt sie zurück. »Wären
Sie bereit, mich zu fotografieren?«
»Was?« Sie starrte ihn an, verwirrt
und gleichzeitig begeistert von der Vorstellung, ein Bild von ihm zu machen.
Wenn er dann weiterzog, wie es unweigerlich geschehen würde, hatte sie
wenigstens ein Foto, das sie an ihn erinnerte.
Erinnern? Warum sollte sie sich an
ihn erinnern wollen?
»Bitte«, drängte er.
»Na schön«, gab Tess schließlich
nach und eilte ins Haus, um ihre Kamera zu holen.
Auf dem Korridor trat ihr Juniper
stirnrunzelnd in den Weg. »Gehst du nicht zur Messe, Kind?«
Es dauerte fast zehn Minuten, bis
Tess Junipers Verhör entkommen war und auf die Veranda zurückkehrte. Dort blieb
sie abrupt stehen. Joels Wagen stand abfahrbereit auf der Straße, er beugte
sich über das Geschirr und überprüfte das Zaumzeug.
Irgendwie gelangte Tess zum Zaun;
sie erinnerte sich nicht, dorthin gegangen zu sein. Die Kamera an die Brust
gepreßt, fragte sie schüchtern: »Ziehen Sie weiter?« Aber warum empfand sie ein
solches Gefühl der Verlassenheit dabei, wenn es doch genau das war, was
Weitere Kostenlose Bücher