Corbins 03 - Wer dem Zauber der Liebe verfaellt...
errötend
zu.
Etwas später, am Tisch mit den
Erfrischungen, kam Roderick Waltam zu Tess und bedachte sie mit einem
bühnenreifen Lächeln.
»Hallo«, sagte er. Seine Augen waren
so braun wie sein Haar, und bis auf seine langen Koteletten war er glattrasiert.
Tess fiel auf, daß sein blauer Samtrock an den Ärmeln und am Kragen schon ein
bißchen schäbig war.
»Ein Glas Punsch?« bot sie
freundlich an.
Mister Waltam nickte; er hatte sich
einen Teller genommen und ihn mit Kuchen, Plätzchen und den hauchdünnen
Sandwiches beladen, die Juniper so viel Mühe gekostet hatten. Der
Schauspielerberuf kann nicht sehr viel einbringen, dachte Tess belustigt.
»Danke«, sagte er. Seine Stimme
klang fest und bestimmt wie die eines Politikers oder eines Schulmeisters.
»Wie heißen Sie?«
Tess schenkte gerade Punsch ein, und
bevor sie antworten konnte, entdeckte sie Joel Shiloh, der auf sie zukam. Er
hielt seinen Hut in der Hand und trug einen Anzug, der von einem hervorragenden
Schneider zu stammen schien und für einen Hausierer viel zu elegant war.
»Sind Sie wieder bei Ihrem
Lieblingsthema?« erkundigte Joel sich mit beißender Höflichkeit.
Etwas von dem Punsch floß über den
Rand des Glases auf das weiße Tischtuch, und Tess errötete ärgerlich.
»Hören Sie ...« begann Mister Waltam
lahm, um dann verwirrt von Joel zu Tess zu schauen und wieder zurück.
Joel bedachte den armen Mann mit
einem derart einschüchternden Blick, daß Roderick Waltam sich hastig
zurückzog, wobei er jedoch darauf achtete, seinen Teller und sein Glas zu
retten.
»Das war sehr unhöflich!« meinte Tess
ärgerlich. Dabei hatte sie Joel Shiloh doch eben noch herbeigewünscht! Wie
konnte sie nur so dumm gewesen sein?
Er war betrunken. Wie er es in
derart kurzer Zeit geschafft hatte, so viel zu trinken, war Tess völlig rätselhaft.
Sein Blick war glasig, und er roch nach Whiskey.
»Wenn Sie wirklich die Geheimnisse
der freien Liebe erkunden wollen«, begann er so laut, daß sich mehrere Gäste zu
ihnen umdrehten, »stelle ich mich gern freiwillig als Lehrer zur Verfügung.«
Tess war wie gelähmt. Würde dieser
Mann denn nie aufhören, sie in Verlegenheit zu bringen? »Ich würde es lieber
mit einem Affen tun«, erwiderte sie, und die Frau des Bankiers Flemming
fächelte sich entrüstet Luft zu und verdrehte die Augen, als wäre sie einer
Ohnmacht nahe.
Joel schaute sich nach Roderick
Waltam um und richtete seinen anklagenden Blick dann auf Tess. »Das sehe ich«,
antwortete er. »Weiß der Zoodirektor schon, daß er frei herumläuft?«
Tess war nicht oft froh, ihre Tante
zu sehen, aber diesmal hätte sie sie küssen können, als sie zu ihnen herüberschwebte
und sich lächelnd erkundigte: »Schwierigkeiten, Mister Shiloh?«
Nicht: Schwierigkeiten, Tess? O
nein. Für Derora war ganz klar, daß Mister Shiloh das Opfer sein mußte. Tess
seufzte.
»Keineswegs«, sagte der Hausierer,
schwankte ein wenig und schaute Derora mit einem etwas einfältigen Lächeln an.
Derora strahlte, nahm Joels Arm und
entführte ihn von Tess' Seite, um ihm Missis Hollinghouse-Stones Theorien
darzulegen und ihn sämtlichen anwesenden Damen vorzustellen.
Tess zwang sich zu einem Lächeln und
servierte weiter Punsch. Die Herren waren ausgesprochen freundlich, die Damen
versprühten Gift.
Es war schon sehr spät, als der
Abend endete. Missis Hollinghouse-Stone zog sich in ihr Zimmer im
>Ostflügel< zurück, was ihr Publikum als Zeichen zum Aufbruch zu
betrachten schien. Während Tess Juniper beim Aufräumen half, versuchte sie
sich einzureden, daß sie über Joel Shilohs erneutes Verschwinden froh war. Froh
und erleichtert! Wahrscheinlich schlief der Trunkenbold gerade seinen Rausch aus.
Was immer noch besser war, als wenn
er die Nacht mit Derora verbracht hätte, mußte Tess zugeben. Diesmal war es
Mister Waltam, dem diese besondere Ehre zuteil geworden war, und obwohl er sich
Mühe gegeben hatte, diskret zu sein, hatte Tess ihn doch die Stufen zu dem
Waggon hinaufsteigen sehen, der nach Süden zeigte.
Als Tess merkte, daß es Sonntag morgen
war, sprang sie aus dem Bett, lief ins Badezimmer und zog sich hastig an. Wenn
sie sich sehr beeilte, konnte sie das Haus verlassen, bevor es Zeit zum
Kirchgang war.
Da Juniper bestimmt schon in der
Küche war, mit der Vorbereitung des Frühstücks beschäftigt, flüchtete Tess
durch die vordere Eingangstür. Es war ein wundervoller Morgen, hell und klar
und sonnig, und die weißen und roten Nelken im Vorgarten
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