Corbins 04 - Wer den Weg des Herzens folgt...
— aber dafür brauchte sie Geld. Den kleinen Betrag
von ihrem Konto in Seattle hatte sie unter der Matratze in Quinns Waggon
versteckt.
Melissa legte ihren Schal um und
verließ das Haus in Richtung Bahnhof, wo sie sah, daß der Zug zwar abgefahren
war, Quinns Waggon jedoch auf einem Nebengleis stand. Melissa kletterte auf die
Plattform und stellte fest, daß die Tür verschlossen war.
»Verdammt!« flüsterte sie
enttäuscht.
»Haben Sie Schwierigkeiten, Mrs.
Rafferty?« Die unbekannte Stimme erschreckte Melissa, aber sie nahm sich
zusammen und bemühte sich, ein würdevolles Gesicht zu machen. Ein großer,
gutaussehender Mann stand in der Nähe. Er hatte blondes Haar wie Ajax, und
seine Augen waren auffallend blau.
»Woher wissen Sie, wie ich heiße?«
»Das weiß jeder«, antwortete der
Mann mit einem mutwilligen Lächeln. »Sie sind berühmt, Madam.« Dann schien er
sich seiner guten Manieren zu entsinnen und reichte Melissa seine Hand.
»Verzeihen Sie bitte ... mein Name ist Mitchell Williams, und ich bin ein
Freund Ihres Mannes und sein Anwalt.«
Der Name kam Melissa irgendwie
bekannt vor, aber sie hatte keine Zeit, darüber nachzudenken. »Ich habe
vierundsechzig Dollar und zweiundsiebzig Cent in diesem Waggon versteckt, und
jetzt komme ich nicht hinein, um das Geld zu holen«, beklagte sie sich, nachdem
sie Mister Williams Hand geschüttelt hatte.
Falls der Anwalt überrascht war,
ließ er sich nichts anmerken. »Das ist kein Problem«, sagte er, während er
seine Brieftasche zog. »Ich leihe Ihnen das Geld. Sie können es mir später
zurückgeben.«
Melissa zögerte. Es gehörte nicht zu
ihren Angewohnheiten, von fremden Männern Geld anzunehmen. Andererseits
rechtfertigte die Situation außergewöhnliche Maßnahmen. »Hm ...«
Mister Williams hatte bereits
fünfundsechzig Dollar abgezählt und reichte sie Melissa, die das Geld widerstrebend
annahm.
»Danke«, sagte sie leise, bevor sie
mit Mister Williams' höflicher Unterstützung von der Plattform stieg.
Er tippte an seinen Hut. »Keine
Ursache, Mrs. Rafferty«, sagte er belustigt. »Sie wollten sicher Einkäufe
machen?«
Melissa atmete tief ein. »Nein,
eigentlich wollte ich ein Telegramm an meine Familie schicken. Gibt es hier ein
Telegrafenamt?«
Mister Williams bot ihr seinen Arm.
»Erlauben Sie mir, Sie hinzuführen.«
Mit dem Gedanken, daß Quinn von
seinem Freund etwas über gute Manieren lernen könnte, dankte Melissa Mister Williams
lächelnd. »Gern. Übrigens bin ich auch auf Stellensuche«, fügte sie hinzu.
Der Anwalt wirkte überrascht, aber
nur für einen Moment. »Sie wollen arbeiten?«
Melissa nickte. »Wissen Sie, Mister
Rafferty und ich haben ein Abkommen getroffen«, vertraute sie Mitch Williams
an.
Seine blauen Augen funkelten. »So?
Ich kann mir eigentlich nicht vorstellen, daß Quinn seine Frau arbeiten läßt.«
»Oh, er ist natürlich dagegen«, gab
sie zu. »Aber er wird unsere Vereinbarung trotzdem einhalten müssen.«
Mister Williams räusperte sich und
schaute für einen Moment zur Seite. Sie hatten das Telegrafenamt erreicht, aber
er zögerte einzutreten, und zwang Melissa so, ebenfalls stehenzubleiben.
»Die Konservenfabrik ist dort
unten«, sagte er mit einer Handbewegung auf die Küste zu. »Meistens suchen sie
Arbeiterinnen.«
»Danke« antwortete Melissa
freundlich und nahm ihre Hand von seinem Arm. »Für alles.«
Ein erstaunlich sanfter Ausdruck
erschien in seinen Augen, als er Melissa ansah. »Kehren Sie zu Ihren Brüdern
zurück. Kleines«, sagte er leise. »Sie haben keine Ahnung, auf was Sie sich
hier eingelassen haben.«
Melissa starrte ihn verblüfft an.
»Was soll das heißen? Worauf habe ich mich denn eingelassen, wenn ich fragen
darf?«
Doch Williams schüttelte nur den
Kopf, strich Melissa flüchtig über die Wange und ging.
Melissa betrat das Telegrafenamt und
setzte ein Telegramm für ihre Familie auf. Nach mehreren Versuchen entschied
sie sich für folgenden Wortlaut:
Kein Grund zur Sorge. Ich bin keine alte
Jungfer mehr. Ich entdecke jetzt das Leben. Mrs. Quinn Rafferty (Melissa).
Sie schickte das Telegramm an Keith,
weil er der Nachsichtigste ihrer Brüder war, bezahlte und verließ das Amt.
Der Weg zur Fabrik war länger, als
sie vermutet hatte, und führte an einigen der siebzehn Saloons vorbei, von
denen Quinn gesprochen hatte.
Sie war erleichtert, als sie endlich
die Fabrik am Ufer der Bucht erreichte. Nachdem sie sich bei einem Mann
erkundigt hatte, der sie neugierig
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