Corkle 1
ihn hier und da mit einem Hammer klopfen hören konnte. Und manchmal arbeitete er bis spät in die Nacht, rechnete mit einem Bleistift auf einem Block und zeichnete Diagramme. Im Juni 1962 rief er seine Familie zu einer Konferenz um den Eßtisch zusammen. Er erklärte seiner Frau und seinem Sohn, daß er sich entschlossen habe, in den Westen zu gehen, um dort seine alte Stellung wieder anzunehmen. Was das Haus anging – nun, das mußten sie eben aufgeben. Weder seine Frau noch sein Sohn widersprachen ihm. Aber später nahm der junge Horst seinen Vater beiseite und gestand ihm, daß Liese schwanger sei, daß sie heiraten müßten und daß, wenn er in den Westen fliehen sollte, Liese mitkommen müsse.
Der alte Schmidt überdachte diese neue Lage in der für ihn typischen methodischen Art. Er fragte seinen Sohn, wie weit das Mädchen sei, und Horst antwortete, im zweiten Monat. Schmidt riet dann seinem Sohn, daß es klüger wäre, Liese nicht sofort zu heiraten, sondern sie erst einmal so mit in den Westsektor zu nehmen. Er unterrichtete Horst über seinen Plan, unter der Mauer einen Tunnel zu bauen, der in dem kleinen, dreieckigen Park enden sollte. Er schätzte, daß der Tunnelbau zwei Monate in Anspruch nehmen würde, wenn sie beide jede Nacht vier Stunden und samstags und sonntags je acht Stunden gruben. Er sagte seinem Sohn, wenn er jetzt gleich heiratete, würden sie die Boehmlers ständig im Haus haben. Horst fragte, ob er Liese von dem Vorhaben berichten dürfe, damit sie Zukunftspläne machen könne und an seinen Absichten keine Zweifel zu hegen brauchte. Der alte Schmidt stimmte widerstrebend zu.
Am nächsten Abend begannen Schmidt und sein Sohn mit dem Tunnel. Die Arbeit war nicht allzu schwierig, bis auf die Beseitigung der Erde. Mit der beluden sie an Wochenenden ihr kleines Auto und fuhren zu verschiedenen abgelegenen Punkten der Stadt, wo die Erde aus Säcken, die Frau Schmidt genäht hatte, geleert wurde.
Der Zugang des Tunnels im Keller wurde von Herrn Schmidt durch seinen von ihm selbst angefertigten Werkzeugschrank verdeckt, den er an geschickt versteckten Scharnieren montierte, durch die er von der Wand weggeklappt werden konnte. Als die Arbeit an dem Tunnel immer weiter voranschritt, beleuchtete er ihn elektrisch, verkleidete ihn mit Brettern, die er bereits vor dem Bau der Mauer angeschafft hatte, und legte sogar den Boden grob mit Linoleum aus. Anfang August war der Tunnel nahezu fertig. Und wenn Herr Schmidt ein weniger fähiger Handwerker gewesen wäre, könnte ich Ihnen diese Geschichte heute nacht nicht erzählen.
Schmidt hatte den Tunnel so angelegt, daß er inmitten einer Gruppe Lebensbäume im Park endete. Sie bildete ein dichtes Gestrüpp, und er hatte den Ausgang wohlweislich so geplant, daß ein fester Druck die Erde über einem kreisrunden Metalldeckel löste. Die Erde konnte dann wieder darübergeschoben werden. All diese Mühe nahm selbstverständlich mehr Zeit in Anspruch als ursprünglich geschätzt. Und Liese, die sich inzwischen dem vierten Monat näherte, begann zu bohren und Horst über seine ernsthaften Absichten auszufragen. Schließlich brachte Horst sie ins Haus und zeigte ihr den Eingang des Tunnels. Mag es ihre Schwangerschaft gewesen sein oder auch ihre Furcht davor, die Eltern zu verlassen, jedenfalls gerieten die jungen Leute in Streit. Das war am Abend vor der von Herrn Schmidt geplanten Flucht.
Wie dem auch sei, Liese ging nach Hause und gestand alles ihrem Vater. Der gute Hauptmann überlegte schnell. Er sagte ihr, sie solle sich am nächsten Tag wieder mit ihrem Horst versöhnen, denn schließlich liebten sie sich ja, und es sei für sie vielleicht besser, wenn sie ihr Kind im Westen bekäme, wo sie bei ihrem Mann sein könne.
Am nächsten Abend packte Liese, die vorher ihren Streit mit Horst bereinigt hatte, einen kleinen Koffer, verabschiedete sich von ihren Eltern und ging zum Haus der Schmidts. Sie traf dort eine Stunde vor dem Zeitpunkt ein, zu dem Schmidt sein Haus verlassen wollte.
Sie tranken an dem schönen Eßtisch eine letzte Tasse Kaffee, griffen dann nach den wenigen Besitztümern, die sie mitnehmen wollten, und machten sich auf den Weg in den Keller. Als sie dort den Eingang zum Tunnel öffneten, erschien in der Kellertür Hauptmann Boehmler mit einer Pistole in der Hand. Er sagte, er bedaure es, das einem guten Freund und Nachbarn antun zu müssen, aber er sei schließlich ein Diener des Staates. Er befahl seiner Tochter, hinauf und nach Hause
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