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Corvidæ / Haus der Jugend [Twindie: Zwei Romane – ein Preis] (German Edition)

Corvidæ / Haus der Jugend [Twindie: Zwei Romane – ein Preis] (German Edition)

Titel: Corvidæ / Haus der Jugend [Twindie: Zwei Romane – ein Preis] (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simone Keil , Florian Tietgen
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umkämpfenswert war. Dennoch sollte ich entscheiden. Für wen, gegen wen, für was, gegen was?
          »Was für eine Entscheidung?«, fragte ich. »Mein Leben wird durcheinander geworfen, damit ich mich entscheide. Ich habe weder eine Entscheidung noch einen Kampf gewollt. Welches Spiel spielt ihr mit mir?« Die Überforderung ließ die Worte lauter aus mir strömen, als es die Höflichkeit gebot. Ich erschrak über den Hall, der von den spärlich geschmückten Wänden zurückgeworfen wurde, zuckte leicht vor meinem eigenen Ausbruch zusammen. Der Pfarrer hatte mir zu Essen gegeben, mir Tee gekocht, ein Bett für die Nacht angeboten, sich zu mir gesetzt, um mit mir zu reden. Aber ich konnte nicht mehr. All die Beschimpfungen mussten aus mir heraus, die Heuschrecken, die zu Schlangen wurden, die Mutmaßungen über meinen Charakter, der Glaube, verdorben zu sein, die Entlassung aus dem Theater, Fritz, der Geld gefordert hatte, der Chef, dem es egal war, ob ich etwas getan hatte, Darius, der einfach verschwunden war. Mein Leben: Ein verlorenes Stück Fleisch, das durchs Universum trudelt, aus der Umlaufbahn geraten und zur Entscheidung gedrängt, als hätte es freiwillig die Grenzen der Atmosphäre übertreten.
          Der Pfarrer blieb ruhig, trank einen Schluck Tee, betrachtete mich, legte die Hand auf den Tisch, meiner nah, aber berührte mich nicht.
          »Weißt du, was die Heuschrecken von dir wollten, was die Schlangen wollen?« Er stand auf, holte eine Petroleumlampe von einem Regal, entzündete deren Docht und stellte sie auf den Tisch, während er sich wieder setzte. Der Geruch von Benzin verbreitete sich über dunklen Qualm, der aus der Lampe stieg und deren Licht in Wolken hüllte. Ich verfolgte ihn mit meinem Blick, wartete, bis ich versuchte, leise genug zu antworten, damit der Raum meine Stimme schluckt, bevor die Wände sie fangen und verstärken können.
          »Ich soll mir eine Frau suchen, heiraten, eine Familie gründen und so tun, als sei ich nicht der, der ich bin.«
          Wieder der Blick des Pfarrers, musternd, abwartend, als wollte er mit seiner Strenge Bewegungen in meinem Kopf bewirken.
          ›Ich muss ihm standhalten.‹ Es war nur ein Gefühl, das mich leitete, dem Blick nicht auszuweichen, gerade zu bleiben.
          »Empfindest du das so?« Starr blieb der Geistliche sitzen, keine Regung im Gesicht.
          Ich nickte stumm - ›gerade bleiben‹ - verbesserte mich, schob schnell mit fester Stimme nach: »Ja.«
          »Warum bist du so überzeugt, verdorben und unanständig zu sein?« Immer noch keine Bewegung. Nur die Schatten und der Rauch der Petroleumlampe scheinen lebendig zu sein, tanzen flackernd im kalten Lufthauch, der durch die Fugen der Fenster und Mauern dringt.
          »Das bin ich nicht«, antwortete ich und hielt meinen Blick unverwandt dem des Geistlichen entgegen. »Das ist die Bewertung der Heuschrecken und Schlangen.«
          Mustern.
          Beobachtende Stille, die mich zur Bewegung zwang. Unruhig wippte ich mit den Beinen unter dem Tisch, setzte mich aufrechter hin, versuchte mich so zu recken. Worauf wollte der Mann hinaus? Wollte er mir etwas erklären oder mich auf etwas bringen, meine Gedanken lenken, bis sie sich mit seinen deckten? Warum sah er mich so durchdringend an, als hätte ich etwas Falsches gesagt? Hatte ich das?
          »Und deine Wertung?«
          Endlich.
          »Ich …«
          »Antworte nicht zu schnell.«
          Was dachte er, was wollte er von mir? ›Überlege!‹ Eine Aufforderung. Wenn ich zu schnell antwortete, hatte ich nicht überlegt. ›Versager, Kind, Lügner.‹ Was hatten die Heuschrecken und Schlangen alles gesagt? ›Du bist verdorben, unanständig, verkommen, kriminell – ein Sünder!‹ Die ganze Latte der Vorurteile, Gesetze, Moralvorstellungen. Das kurze Leben lang gehört. Der Priester im Verschickungsheim, als er mich nach Hause schickte, mein Vater, als ich dort ankam, meine Mutter, wenn sie über die vom anderen Ufer sprach, ohne zu wissen, ich gehörte dazu. Mein Chef, als er mich vor die Tür setzte, weil er wusste, ich gehörte dazu. Die Bergmosers, als sie mich fragten, ob es mir nichts ausmachte, jeden Tag über ›diesen Platz‹ zu gehen. Eingetrichtert, eingebläut, steter, Stein höhlender Tropfen, der durch die Materie bis ins Mark gedrungen ist. War es das, was der Pfarrer von mir hören wollte? Dachte ich so über mich?
        

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