Cosm
Luft zu einer öligen Flüssigkeit. Der Raum war, ganz nach dem neuesten Trend, in Beton, Marmor und Stahl gehalten, und die vielen, harten Resonanzflächen ließen jede Stimme schrill klingen. Im Augenblick befand sich das Lokal obendrein in einer Phase, in der man an jedem Tisch glaubte, lauter sprechen zu müssen, um den Lärm zu übertönen, und jeder neue Gast und jeder Schluck Alkohol, der die müden Feierabendgehirne erreichte, den Geräuschpegel nach oben schnellen ließ. Nur wennetwa alle zwanzig Minuten das Licht gedämpft wurde, trat für einen Moment Stille ein.
Der Kellner nahm die Bestellungen entgegen wie Geheimnisse, die er niemandem verraten würde. Sein Pseudo-Smoking war in den Schultern so breit geschnitten, daß es aussah, als habe er einen Kleiderbügel darin vergessen. Bei seinem Anblick mußte Alicia plötzlich an Max denken, ein Sprung, den sie sich nicht erklären konnte. Vermutlich lag es am Gin. Bernie riß sie jäh aus ihren Gedanken, als er noch einmal genauer auf die Position der UCI zu sprechen kam, nach einer Äußerung des Vizekanzlers und anderem Universitätsklatsch fragte, nach Dingen also, die sie sich ohnehin nicht merken konnte. Sie hatte Mühe, sich auf das Kreuzfeuer zu konzentrieren, und war froh, daß ihr Vater mit Jill beschäftigt war. Dad hatte sie zuerst unentwegt mit Anrufen und E-Mails verfolgt und dann, weil er angeblich ›ganz zufällig‹ in der Gegend war, dieses Essen arrangiert, um Bernie ›ins Team‹ zu holen. Alicia beobachtete staunend, wie Jill mit ihm kokettierte, beneidete sie wieder einmal um ihre Umgangsformen und ihren angeborenen Charme und kam sich vor wie das häßliche Entlein neben dem stolzen Schwan.
Schließlich kam man wieder auf Thema Nr. Eins zurück, und nun stand Alicia im Mittelpunkt.
Dad eröffnete die Debatte: »Paß auf, Honey, ich muß dir jetzt eine ganz dumme Frage stellen.«
»Deine Fragen sind nicht dumm, sie zeugen höchstens von Unwissenheit.«
»Danke. Wie beruhigend.«
Und dann waren sie auch schon mittendrin, und alle erwarteten von Alicia eine möglichst anschauliche Beschreibung, eine Art Minivorlesung mit dem Titel Bau eines Universums .
Sie hatte inzwischen gelernt, sich sehr einfach auszudrücken. »Man stelle sich zwei Massen vor«, begann sie, »die weit voneinander entfernt sind. Sie ziehen sichdurch ihre Schwerkraft gegenseitig an, stürzen aufeinander zu und kollidieren; dabei wird kinetische Energie frei. Doch im Augenblick der Kollision überlagern sich die Schwerkraftfelder, so daß sich am Ende auch die Gravitationsenergie vermehrt. Das ergibt nur dann einen Sinn, wenn der Zuwachs an kinetischer Energie positiv und der Zuwachs an Gravitationsenergie negativ ist.«
Während sie sprach, zeichnete sie schon die ersten Diagramme auf die Servietten, ohne in ihrem Eifer zu bemerkten, daß es sich um glänzende, reinweiße Damastservietten handelte, und daß ihr der Kleiderbügelkellner erboste Blicke zuwarf.
»Damit stehen wir auf Null – denn insgesamt wurde keine Energie erzeugt, richtig? Wenn nun das Fehlen eines Schwerkraftfeldes gleich keiner Energie ist, dann muß das Vorhandensein eines Schwerkraftfeldes gleich negativer Energie sein. Im RHIC passierte nun – beide Male – folgendes: mit einer Menge an Gravitationsenergie, die der Menge an kinetischer Energie nahezu gleich war, wurde ein Körnchen sehr dichter Materie geschaffen. Der Collider brauchte aber nicht die gesamte Energiemenge zu liefern, die für die Erstellung eines Universums erforderlich war, er brauchte nur die Anzahlung zu leisten, und das war jenes stark komprimierte Massekörnchen. Das heißt, wir konnten mit sehr geringem Aufwand eine Raumzeitverzerrung erreichen, die die Eigenschaften eines Universums im Anfangsstadium besaß.«
Die Kompression von 10 -5 Gramm Materie zu einem Körnchen von 10 -33 cm Durchmesser könne einen Big Bang auslösen, fuhr sie fort. In Frage komme hier allerdings auch der Tunneleffekt, denn damit lasse sich ein Quantenzustand in einen Endzustand überführen, der rein von der Energiebilanz her nicht möglich sei. Auf diese Weise könne sich auch ein größeres, weniger massives Körnchen in den Big-Bang-Zustand tunneln. Weitere Diagramme. Sie schloß mit dem Hinweis, daß diese Massen- und Größenzahlen nach dem Physiker, der Energien als erster aus diesem Blickwinkel betrachtet hatte, als Planck-Masse und Planck-Radius bezeichnet würden.
»Honey, von wieviel Energie sprechen wir denn
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