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Cosmopolis

Cosmopolis

Titel: Cosmopolis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Don DeLillo
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frei entfalten.«
    »Was. Nichts tun.«
    »Soll sich ruhig frei entfalten«, sagte Ingram.
    Eric gefiel, wie das klang. Es eröffnete Assoziationen. Er versuchte, den Praxiskollegen wahrzunehmen. Zum Beispiel hatte er einen Schnurrbart. Den hatte Eric bislang nicht gesehen. Er rechnete auch mit einer Brille. Aber der Mann trug keine Brille, auch wenn er wie jemand wirkte, der eine tragen sollte, ausgehend vom Gesichtsschnitt und dem allgemeinen Auftreten, er wirkte wie ein Mann, der seit seiner frühen Jugend eine Brille getragen und überbehütet ausgesehen hatte, ein Außenseiter, den die anderen Kinder verfolgten. Er war ein Mann, bei dem man geschworen hätte, dass er Brille trug.
    Er bat Eric, aufzustehen. Er stellte den Untersuchungstisch auf halbe Länge ein. Dann bat er ihn, Hose und Shorts herunterzuziehen und sich mit gespreizten Beinen über das vordere Ende des Tisches zu bücken.
    Eric tat es und sah seiner Finanzchefin ins Gesicht.
    Sie sagte: »Also, schauen Sie. Wir haben zwei Gerüchte, die für uns arbeiten. Erstens gibt es seit einem geschlagenen halben Jahr Konkurse. Jeden Monat mehr. Und noch mehr sind in Sicht. Große japanische Gesellschaften. Das ist gut.«
    »Der Yen muss fallen.«
    »Das bedeutet Vertrauensverlust. Es wird den Yen nach unten zwingen.«
    »Der Dollar wird sich erholen.«
    »Der Yen wird fallen«, sagte sie.
    Er hörte ein gleitendes Latexrascheln. Dann drang der Ingram-Finger ein.
    »Wo ist Chin?«, fragte sie.
    »Arbeitet an visuellen Mustern.«
    »Dieses Ding stellt sich nicht dar.«
    »O doch.«
    »Nein, nicht so, wie sich Technologiewerte darstellen. Da findet man richtige Muster. Und vorhersehbare Komponenten. Das hier ist anders.«
    »Wir bringen ihm das Sehen bei.«
    »Das Sehen sollten Sie übernehmen. Sie sind der Seher. Was ist er? Ein Junge. Er hat die Strähne im Haar. Er hat den Ohrring.«
    »Er hat gar keinen Ohrring.«
    »Wenn er noch ein bisschen verträumter wäre, müssten wir ihn an die Maschinen anschließen.«
    Er sagte: »Was ist das zweite Gerücht?«
    Ingram untersuchte die Prostata nach Anzeichen. Er tastete, der Finger piekte hinterlistig durch die rektale Wand in die Oberfläche der Drüse. Es war schmerzhaft, vermutlich nur angespannte Muskeln im Analkanal. Aber es tat weh. Schmerz. Der reiste durch die Verästelungen der Nervenbahnen. Aus seiner vornübergebeugten Position sah Eric direkt in Janes Gesicht. Es gefiel ihm, und das überraschte ihn. Im Büro verbreitete sie eine gereizte Stimmung, war skeptisch, voll Widerspruch, argwöhnisch und eine begnadete Dauermeckerin. Hier war sie eine allein erziehende joggende Mutter auf einem Klappsitz, x-beinig und irgendwie rührend hager. Ein Schwall Haare lag feucht und flach auf ihrer Stirn, von ersten schwachen Grauspuren durchzogen. Die Wasserflasche baumelte an einer schlaffen Hand.
    Sie wich seinem Blick nicht aus. Sie hielt vollständigen Blickkontakt. Ihr Schlüsselbein schaute knubblig aus dem Ausschnitt ihres Tanktops heraus. Er hätte ihr am liebsten den Schweiß von der Unterseite des Handgelenks geleckt. Sie war Handgelenke und Schienbeine und labellolose Lippen.
    »Es gibt ein Gerücht, das betrifft wohl auch den Finanzminister. Angeblich tritt er jeden Moment zurück«, sagte sie. »Irgendein Skandal um einen falsch gedeuteten Kommentar. Er hat einen Kommentar zur Wirtschaft abgegeben, der vielleicht falsch gedeutet wurde. Das ganze Land analysiert Grammatik und Syntax dieses Kommentars. Oder es war noch nicht mal das, was er gesagt hat. Sondern eine Pause, die er gemacht hat. Sie versuchen, den Sinn dieser Pause zu deuten. Das könnte womöglich noch tiefer reichen als Grammatik. Es könnte ums Luftholen gehen.«
    Wenn Nevius das mit dem Finger machte, war er binnen Sekunden rein und raus. Ingram bohrte nach irgendeiner trüben Tatsache. Jane war die Tatsache. Sie hatte die Flasche zwischen den Beinen, die Knie jetzt nach außen gedreht und beobachtete ihn. Ihr Mund stand offen und zeigte große Zähne mit Lücken dazwischen. Irgendetwas spielte sich zwischen ihr und ihm ab, ganz tief, eine Sympathie über die gängigen Wortbedeutungen hinaus, zu der auch so etwas gehörte wie Mitgefühl, Angezogensein, Zärtlichkeit, die ganze Physiologie von neuralen Manövern, Herzschlag und Ausschüttungen, irgendein immenser Sexus der Erregung zog ihn zu ihr hin, auf komplizierte Weise, und dazu Ingrams Finger im Arsch.
    »Also die ganze Wirtschaft verkrampft sich«, sagte sie, »weil der Mann Luft

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