Cotton Malone 04 - Antarctica
Planken gesicherten Straße in den Tiroler Alpen abgekommen war. Er war zum Skifahren dort gewesen und hatte Dorothea unmittelbar vor dem Unfall angerufen, um ihr zu erzählen, dass er in demselben Hotel absteigen würde, das er immer besuchte. Sie hatten ein paar Minuten geplaudert – leicht, kurz und beiläufig, Mutter und Sohn, die Art von müßigem Gespräch, wie man es häufig führte.
Und danach hatte sie nie wieder mit ihm geredet.
Als sie ihr einziges Kind das nächste Mal sah, lag es in einen grauen Anzug gekleidet zum Begräbnis bereit in einem Sarg.
Das Familiengrab der Oberhausers lag neben einer alten bayrischen Kirche ein paar Kilometer westlich von Reichshoffen. Nach dem Begräbnis hatte die Familie dort in Georgs Namen eine Kapelle gestiftet, und die ersten zwei Jahre war Dorothea regelmäßig dorthin gegangen und hatte eine Kerze entzündet.
Doch in den letzten drei Jahren war sie weggeblieben.
Vorne erblickte sie die Kirche, deren Buntglasfenster schwach erleuchtet waren. Werner parkte davor.
»Warum sind wir hier?«, fragte sie.
»Glaub mir, wenn es nicht wichtig wäre, wären wir nicht hier.«
Er trat in die Nacht hinaus. Sie folgte ihm in die Kirche. Drinnen war keiner, aber die schmiedeeiserne Tür zu Georgs Kapelle stand offen.
»Du warst eine ganze Weile nicht mehr hier«, sagte er.
»Das geht nur mich etwas an.«
»Ich bin recht oft hierhergekommen.«
Das überraschte sie nicht.
Sie näherte sich der Tür. Ein marmorner Betschemel stand vor einem kleinen Altar. Darüber war St. Georg auf einem silbrigen Pferd in den Stein graviert. Sie betete nur selten und wusste nicht einmal recht, ob sie überhaupt glaubte. Ihr Vater war ein überzeugter Atheist gewesen und ihre Mutter eine nicht praktizierende Katholikin. Falls es einen Gott gab, empfand sie nichts als Zorn ihm gegenüber, weil er ihr den einzigen Menschen geraubt hatte, den sie vorbehaltlos geliebt hatte.
»Mir reicht es jetzt, Werner. Was willst du eigentlich? Das hier ist Georgs Grab. Er hat unsere Achtung verdient. Das ist nicht der Ort, um unsere Meinungsverschiedenheiten auszutragen.«
»Und das soll Respekt ihm gegenüber sein, wenn du mir die Achtung verweigerst?«
»Ich kümmere mich überhaupt nicht um dich, Werner. Du hast dein Leben, und ich habe das meine.«
»Es ist vorbei, Dorothea.«
»Einverstanden. Unsere Ehe ist schon lange vorbei.«
»Das habe ich nicht gemeint. Das mit den anderen Männern ist vorbei. Ich bin dein Mann, und du bist meine Frau.«
Sie lachte. »Das soll wohl ein Scherz sein.«
»Es ist mir tatsächlich sehr ernst.«
»Und was hat dich so plötzlich zum Mann gemacht?«
Er zog sich zur Wand zurück. »An irgendeinem Punkt müssen die Lebenden die Toten loslassen. Ich bin an diesen Punkt gelangt.«
»Du hast mich hierher gebracht, um mir das zu sagen?«
Ihre Beziehung war durch die Eltern vermittelt worden. Es war keine arrangierte Ehe im formalen Sinne gewesen, aber dennoch geplant. Zum Glück hatte sich eine gegenseitige Zuneigung entwickelt, so dass ihre ersten Jahre durchaus glücklich gewesen waren. Georgs Geburt hatte ihnen beiden viel Freude gebracht. Auch während seiner Kindheit und Jugend waren sie glücklich gewesen. Aber sein Tod hatte unversöhnliche Gegensätze zwischen ihnen aufreißen lassen. Beide schienen das Bedürfnis nach Schuldzuweisungen zu empfinden, und sie richteten ihre Frustration gegeneinander.
»Ich habe dich hierher gebracht, weil ich musste«, sagte er.
»Ich bin nicht zu dem Punkt gelangt, den du anscheinend erreicht hast.«
»Es ist schrecklich schade«, sagte er, als hätte er sie gar nicht gehört. »Er wäre ein großartiger Mann geworden.«
Sie stimmte ihm zu.
»Der Junge hatte Träume und Ambitionen, und wir hätten ihn wunderbar unterstützen können. Er wäre das Beste aus uns beiden gewesen.« Er drehte sich um und sah sie an. »Was er jetzt wohl von uns denken würde?«
Seine Frage kam ihr merkwürdig vor. »Was meinst du damit?«
»Wir sind beide nicht gut miteinander umgegangen.«
Sie musste endlich Bescheid wissen. »Werner, was machst du hier eigentlich?«
»Vielleicht hört er zu und möchte unsere Gedanken kennen.«
Sie nahm ihm übel, dass er Druck machte. »Mein Sohn hätte alles gebilligt, was ich tue.«
»Ach, wirklich? Hätte er das gebilligt, was du gestern getan hast? Du hast zwei Menschen getötet.«
»Und woher weißt du das?«
»Ulrich Henn hat hinter dir aufgeräumt.«
Sie war verwirrt und besorgt, aber sie
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