Cotton Malone 05 - Der Korse
Handflächen lag eine Pistole.
Sie warf ihm die Waffe zu, und er fing sie auf.
Mit der linken Hand umklammerte er den Griff und legte den Finger an den Abzug. Seit seinem letzten Besuch am Schießstand des Secret Service hatte er keine Waffe mehr abgefeuert. Wie lange war das inzwischen her, vier Monate? Egal. Er war froh, das Ding zu haben.
Als er ihrem intensiven Blick begegnete, bedeutete sie ihm mit einem ungeduldigen Wink, endlich zu schießen.
Er holte tief Luft, schob die Waffe am Torbogen vorbei und betätigte den Abzug.
Irgendwo in dem roten Raum zerbrach Glas.
Er schoss erneut.
»Sie könnten wenigstens den Versuch machen, einen von denen zu treffen«, zischte sie aus ihrem Versteck.
»Wenn Sie so verdammt gut sind, dann machen Sie es doch selbst.«
»Werfen Sie mir die Waffe wieder rüber, dann mache ich das auch.«
29
Loire-Tal
Eliza saß im Salon, besorgt wegen der unerwarteten Komplikationen, die sich in den letzten Stunden ergeben hatten. Thorvaldsen war nach Paris aufgebrochen. Morgen würden sie mehr miteinander reden.
Doch im Moment brauchte sie Führung.
Sie hatte den Kamin in Gang setzen lassen, und jetzt loderte dort ein lebhaftes Feuer und beleuchtete das Motto, das einer ihrer Vorfahren in den Kaminsims gehauen hatte:
S’IL VIENT À POINT, ME SOUVIENDRA.
Wenn diese Burg fertiggestellt wird, wird man sich meiner erinnern.
Sie saß in einem der Sessel. Die Vitrine, in der die vier Papyri lagen, stand rechts von ihr. Nur das Knistern der Glut durchbrach die Stille. Man hatte ihr gesagt, dass es am Abend vielleicht schneien würde. Sie liebte den Winter, insbesondere hier auf dem Land in der Nähe von allem, was ihr teuer war.
Noch zwei Tage.
Ashby befand sich in England und traf die Vorbereitungen. Vor Monaten hatte sie ihm eine Reihe von Aufgaben übertragen, weil sie ihn für erfahren und fähig gehalten hatte. Jetzt fragte sie ich ob dieses Vertrauen ein Fehler gewesen war. Viel hing von dem ab, was er tat.
Nicht nur viel, sondern genau genommen sogar alles.
Sie war Thorvaldsens Fragen ausgewichen und hatte ihm nicht gestattet, die Papyri zu lesen. Dieses Recht hatte er sich nicht verdient. Dasselbe galt bisher auch für die Clubmitglieder. Dieses Wissen war ihrer Familie heilig. Pozzo di Borgo selbst hatte es erlangt, als seine Leute die Dokumente aus einer Lieferung mit persönlichen Besitztümern Napoleons gestohlen hatten, die nach St. Helena gehen sollte. Napoleon hatte das Fehlen der Dokumente bemerkt und offiziell protestiert, aber alle etwaigen Verfehlungen hatte man seinen britischen Aufsehern zugeschrieben.
Außerdem hatte sich letztlich keiner darum geschert.
Damals war Napoleon schon vollkommen ohnmächtig. Alles, was die Staatenlenker Europas wollten, war, dass der einst mächtige Kaiser eines schnellen, natürlichen Todes starb. Es sollte keine Tricksereien geben und schon gar keine Hinrichtung. Man durfte nicht zulassen, dass er zum Märtyrer wurde, und die beste Möglichkeit, das erwünschte Ergebnis zu erreichen, schien darin zu bestehen, ihn auf einer abgelegenen Atlantikinsel festzuhalten.
Und es hatte funktioniert.
Napoleon war tatsächlich immer schwächer geworden.
Nach fünf Jahren war er gestorben.
Sie stand auf, trat zur Vitrine und betrachtete die vier alten Schriftstücke, die dort sicher aufbewahrt ruhten. Sie waren vor langer Zeit übersetzt worden, und sie kannte jedes Wort auswendig. Pozzo di Borgo hatte das Potenzial dieses Textes schnell erkannt, aber er lebte in der nachnapoleonischen Zeit, als Frankreich sich in ständigem Aufruhr befand, misstrauisch gegenüber der Monarchie und gleichzeitig unfähig zur Demokratie.
Daher hatten die Papyri ihm wenig genützt.
Sie hatte die Wahrheit gesagt, als sie Thorvaldsen erklärte, man könne unmöglich wissen, wer die Schriftstücke verfasst habe. Alles, was sie wusste, war, dass die Worte Sinn machten.
Sie zog eine Schublade unter der Vitrine auf. Darin lag eine Übersetzung des ursprünglich Koptischen ins Französische. In zwei Tagen würde sie diese Worte mit dem Pariser Club teilen. Jetzt aber blätterte sie die getippten Seiten durch, machte sich erneut mit ihrer Weisheit vertraut und staunte über ihre Schlichtheit.
Krieg ist eine fortschrittsstiftende Kraft, die auf natürliche Weise etwas schafft, was sonst nicht Realität geworden wäre. Freies Denken und Innovationen sind nur zwei der vielen positiven Aspekte, die der Krieg mit sich bringt. Der Krieg ist eine in der
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