Couchgeflüster
zwölf ist dann die letzte Vormittagsstunde endlich vorbei. Ben wollte gegen halbeins hier sein. Also habe ich noch über dreißig Minuten. Zeit, um nach Hause zu sausen und mich in sexy Klamotten zu werfen. Heute Morgen habe ich in meiner trunkenen Glückseligkeit vergessen, mir gleich etwas mitzunehmen. Was ich hingegen nicht vergessen habe, ist, dass Ben gestern sagte, er sei normalerweise überpünktlich. Also klebe ich zur Sicherheit noch einen «Bin-gleich-zurück-Zettel» an die Tür und düse los.
Obwohl die Menge meiner verführungstauglichen Outfits sehr übersichtlich ist, dauert die Auswahl doch länger als geplant. Schließlich entscheide ich mich für einen weiten dunkelgrünen Rock und ein hellgrünes ärmelloses Top mit stilisierten Blüten und kleinem Stehkragen im asiatischen Stil. Dann schlüpfe ich schnell in schwarze Ballerinas, in denen ich rennen kann, denn inzwischen ist es allerhöchste Zeit.
Abgehetzt erreiche ich das Studio, wo vor der Tür eine meiner Schülerinnen wartet, eine ältere Schauspielerin. Ben ist nicht zu sehen.
«Hallo, Desiree. Kommst du mich besuchen?», frage ich verwundert, denn sie ist meine treueste Schülerin und trainiert gewöhnlich am Abend.
Wie immer ist sie bunt gekleidet – heute komplett in Rot-orange. Desiree hat immer noch die perfekte Figur eines jungen Mädchens (ihr tatsächliches Alter schätze ich allerdings auf Anfang fünfzig). Sie kann sich die knallengen Caprihosen leisten, in denen ihre schmalen Beine stecken. Aus den feuerroten Sandalen lugen rotlackierte Zehennägel hervor.
«Ach, ich würde liebend gerne mal nur zum Kaffeeklatsch vorbeikommen», erklärt sie und kramt in ihrer Tasche. «Aber du weißt ja: In meinem Alter kann nichts mehr die Cellulite aufhalten. Also muss ich rund um die Uhr auf der Matte liegen.»
Nur gut, dass sie bis jetzt noch nicht in dem neuen Fitnessclub hängengeblieben ist, denke ich und nicke ihr verständnisvoll zu. Ich schließe die Tür auf und lasse sie rein.
Verlegen überreicht sie mir einen Umschlag. «Das ist … äh … eine Kündigung, aber eine ganz freundliche. Soweit das überhaupt möglich ist …»
Also doch!
Sofort verfliegt meine gute Laune. «Hast du dich über irgendwas geärgert?», frage ich sie direkt. Britta hat recht, ich muss den Kündigungsgrund meiner Schüler erfahren, sonst weiß ich ja nicht, ob ich meinen Stundenplan oder sonst irgendetwas ändern muss.
Desiree schüttelt den Kopf. «Nein, es geht mir nur um den Sonntag, Nelly. Leider gibt’s dann hier kein Training, und ich werde in den nächsten Monaten unter der Woche überhaupt keine Zeit mehr haben. Stell dir vor, mir wurde eine große Rolle angeboten. Die schrille Schwiegermutter in einer Telenovela. Eine echte Traumrolle! Ich kann es immer noch nicht fassen. Wo sich die Konkurrenz inzwischen doch bei jedem Casting auf die Füße tritt.» Verlegen fährt sie sich durch ihr kastanienbraunes Haar. «Ich hoffe, du verstehst, dass meine Kündigung nichts mit dir oder deinem Unterricht zu tun hat?»
Niemandem gönne ich ein lukratives Rollenangebot so sehr wie Desiree. Abgesehen von ihrem Talent als Schauspielerin, das sie viel zu selten zeigen darf, weiß ich von Britta, wie hart es für eine ältere Schauspielerin ist.
«Herzlichen Glückwunsch, Desiree.» Ich bemühe mich um ein aufrichtiges Lächeln. «Ich freu mich für dich, ehrlich. Aber darf ich dich etwas fragen? … Na ja, also, deine Kündigung ist nicht die erste. Und ich glaube, daran ist dieser neue Fitnessclub in der Turmstraße –»
«Genau!», unterbricht sie mich energisch. «Ich hab dort eine Probestunde genommen, damit ich meine alten Knochen auch am Sonntag bewegen kann, und einige Gesichter kamen mir ziemlich bekannt vor.»
«Das habe ich befürchtet.» Hilflos zucke ich die Schultern.Wenn ich ihr jetzt mein Leid klage, fange ich noch an, mich wie ein Kleinkind an ihrer Schulter auszuheulen.
«Es tut mir echt leid», erklärt Desiree. «Schade, dass ich kein Promi bin wie meine Namensvetterin Desiree Nick. Ich bin ja höchstens ein C-Promi . Aber sobald ich es in die A-Klasse geschafft habe, trommle ich sämtliche Paparazzi Berlins zusammen und gebe eine Pressekonferenz.» Ihre goldbraunen Augen blitzen erheitert auf. «Desiree Engels in Yogi-Position oder so … Das wäre ein riesiger P R-Rummel und würde dir garantiert ’ne Menge Zulauf bringen. Aber bis ich olle Schachtel berühmt werde, das kann dauern. So lange können
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