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CRASH - Ins falsche Leben: Roman (German Edition)

CRASH - Ins falsche Leben: Roman (German Edition)

Titel: CRASH - Ins falsche Leben: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martyn Bedford
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war. Wie eine teilweise ausradierte Zeichnung kam sie ihm vor.
    »Bist du mit Alex in einer Klasse?«, fragte sie und reichte ihm das Glas Wasser. Es war zu voll und lief ein bisschen über, aber sie schien es nicht zu merken.
    »Nein, ich bin in der 9JH.«
    Nachdem er gelogen hatte, er sei ein Freund von Alex, musste er jetzt weitermachen. Vieles von dem, was er sagen würde, hing davon ab, was sie sagte. Eines war klar: Er konnte sich nicht einfach hinstellen und behaupten, er sei Alex. Momentan reichte es, wenn er Kontakt mit seiner Familie herstellen konnte, sich mit ihnen anfreunden, ihr Vertrauen gewinnen, während er sich seine nächsten Züge überlegte.
    »JH?«, sagte seine Mum. »Ist das   –«
    »Mrs Harewood.«
    »Die alte Hasenfuß?«
    Alex grinste. »Genau die. Unterrichtet Naturwissenschaften.«
    Mum spülte die Teekanne aus und wartete, dass das Wasser kochte. »Sie hat uns eine sehr schöne Karte geschickt«, sagte sie dann. »Jennifer. Jenny Harewood.« Sie stellte die Kanne ab und hängte ein paar Teebeutel hinein. »Sie hat Alex immer als vielversprechenden Chemiker gesehen.«
    Das musste Alex erst einmal verdauen. Seine Lehrer hatten seiner Mutter Beileidskarten geschickt.
    Hier in der Küche, beim Frühstück, hatte ihn seine Mum an einem Morgen im letzten Oktober das Periodensystem abgefragt   – hatte lauter Symbole von einem Arbeitsbogen abgelesen, während er Cornflakes gegessen und die betreffenden Elemente und ihre Ordnungszahlen genannt hatte. Jedenfalls hatte er es versucht. Hinterher hatte sich Mum im Periodensystem genauso gut ausgekannt wie er. Von da an hieß Special K (Mums Frühstücksflocken) bei ihnen nur noch Special Kalium.
    »Entschuldige, ich habe deinen Namen vergessen.«
    »Philip.« Er kam sich schäbig vor, sie so anzulügen. Ehe sie sagen konnte, dass sie sich nicht entsinnen konnte, dass Alex je von ihm gesprochen hätte, oder sich wunderte, dass sie einander noch nie begegnet waren, sagte er: »Ich bin erst seit September auf der Crokeham Hill. Wir sind wegen der Arbeit von meinem Dad aus Yorkshire hergezogen.«
    »Ich hab doch gleich so was gehört. Das leichte Näseln aus dem Norden.«
    Als sie das sagte, merkte Alex, dass er ihren vertrauten Südlondoner Akzent als seltsam tröstlich empfand. Er klang nach zu Hause. Wenn man Mum reden hörte, wusste man gleich, wo sie herkam. Anders als bei Mr und Mrs Garamond, deren Aussprache so neutral war, dass die beiden von überall stammen konnten. Woher kamen sie eigentlich? Die Mutter hatte mal am Telefon gesagt, dass sie nach Litchbury   –
dort hoch   –
gezogen wären, weil der Vater die Stelle an der Uni bekommen hatte, aber mehr nicht.
    Inzwischen würden sich die beiden allmählich wundern, wo Philip abgeblieben war.
    Die Küche, das ganze Haus kam Alex viel kleiner und schäbiger vor als das Haus der Garamonds. Mum goss jetzt heißes Wasser in die Kanne und setzte den Häkelwärmer drauf, den Dad schon lange aus hygienischen Gründen zu verbrennen drohte. »War’s das Schach?«
    »Wie bitte?«
    »Hast du Alex übers Schachspielen kennengelernt?«
    »Ach so, ja   … ja, im Schachclub.«
    »Sein Opa hat es ihm beigebracht.« Sie lächelte. »Sie haben stundenlang gespielt. Ich habe ihnen immer belegte Brote und was zu Trinken hingestellt.«
    Käse, dick geschnitten, mit roten Zwiebelringen drauf, von denen es einen in der Nase kribbelte. Weißbrot. Milch für ihn, Kakao für Opa. Er trank einen Schluck Wasser, um sich von der Erinnerung loszureißen, sonst hätte er losgeheult. Wenn er erst mal heulte, fiel er ihr womöglich als Nächstes um den Hals und nannte sie »Mum«. Bis jetzt hatte sich Alex gut gehalten. Sogar hier, in seinem Elternhaus, in Gegenwart seiner Mutter, hatte er sich zusammenreißen können. Aber die Erinnerung an seine Marathonpartien mit Opa und der Gedanke daran, dass Mum sie alle beide verloren hatte   – ihren Vater und ihren Sohn   –, und an das, was Alex selbst verloren hatte, oder wovon er mit Gewalt getrennt worden war   … das alles überwältigte ihn fast. Auf einmal fand er es gruselig, als völlig Fremder in dieser so vertrauten Küche zu stehen.
    Er hatte sich den Augenblick des Wiedererkennens ausgemalt, den ungläubigen Ausdruck in den Augen seiner Mutter, ihre Hand, die sich zögernd nach seiner Wange ausstreckte, die Konturen nachfuhr   – wie eine Blinde   –, und dann die geflüsterte Frage, als könnte sie es selbst nicht recht

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