CRASH - Ins falsche Leben: Roman (German Edition)
Klarinette in ihrem Halter. Alex nahm das Instrument in die Hand. Am liebsten hätte er etwas gespielt. Aber abgesehen davon, dass er damit verraten hätte, dass er in »Alex’« Zimmer herumschnüffelte, hätte er mit seiner ramponierten Lippe und dem Blatt, das im letzten halben Jahr völlig ausgetrocknet sein musste, wahrscheinlich ohnehin keinen Ton herausbekommen. Trotzdem war es ein schönes Gefühl, die Klarinette in der Hand zu halten. Gebraucht gekauft, aber ein schönes Instrument. Er hatte sie zum neunten Geburtstag bekommen. Noch mit neunzig würde er sich an ihren Geruch, ihren Klang und das Gewicht in der Hand erinnern, an jede Schramme und jeden Fleck auf der schokoladenbraunen Oberfläche.
Dabei würde er natürlich nicht neunzig werden. Nicht einmal fünfzig. Nicht als Alex.
Machte ihm
das
zu schaffen? Wahrscheinlich kam alles zusammen – hier in diesem Haus zu sein. Jedenfalls packte ihn plötzlich eine unerwartete Trauer, seine Schultern bebten bei jedem Schluchzer. Tränenblind betrachtete er das Bett.
Sein
Bett. Angenommen, er legtesich hinein, jetzt sofort – einfach unter die Decke mit den Zebrastreifen schlüpfen und einschlafen. Und dann, nachdem er ein paar Stunden geschlafen hatte, würde er mitten in der Nacht plötzlich aufwachen und wieder in seinem eigenen Körper sein …
Alex merkte, dass er immer noch die Klarinette in der Hand hielt. Er beugte sich vor, um das Instrument wieder in den Halter zu stellen.
»Spielst du auch, Philip?«
Er erschrak fast zu Tode. Er hatte Mum nicht die Treppe heraufkommen hören, wusste auch nicht, wie lange sie schon in der Tür stand. Ihre leise Frage klang jedenfalls nicht so, als sei sie sauer auf ihn. Als er sich umdrehte und ihre Reaktion auf sein tränenverschmiertes Gesicht sah, wusste er, dass sie überhaupt nicht sauer war. Sie konnte nicht wissen oder auch nur ahnen, warum dieser fremde Junge weinte oder was er in Alex’ Zimmer zu suchen hatte, aber es hatte ganz den Anschein, als betrachtete ihn seine Mutter nicht als Eindringling, sondern als Verbündeten, mit dem sie ihre Liebe und ihren Schmerz über den Verlust teilen konnte.
Wie oft war sie selbst hier hereingekommen und hatte geweint?
Wenn er sich jetzt dafür entschuldigte, das Zimmer betreten zu haben, würde er den Zauber brechen. Deshalb beantwortete er lediglich ihre Frage: »Ich habe mal gespielt.« Es war nicht mal gelogen.
Sie nickte, als hätte sie ihn schon die ganze Zeit für musikalisch gehalten. Da war ein Junge im gleichen Alterwie Alex, der Schach spielte wie Alex, der Klarinette spielte, genau wie Alex. Auch wenn Mum nicht Alex’ eigentliches
Wesen
in diesem unerwarteten Besucher spürte, so schien sie in ihm doch eine Art Ersatzsohn zu sehen. Zumindest war sie offenbar froh darüber, mit jemandem über ihren Sohn sprechen zu können.
»Er hat mir manchmal den letzten Nerv geraubt«, sagte sie, immer noch im Türrahmen stehend. »Erst wenn man Kinder hat, weiß man, wie
wütend
man selber werden kann.«
Falls sie eine Antwort erwartete, ließ sie ihm keine Zeit, sich eine auszudenken.
»Ich würde alles dafür geben, ihn zurückzubekommen«, sagte sie und lächelte in sich hinein, »aber ich weiß, dass ich über kurz oder lang wieder mit ihm meckern und ihn anbrüllen würde.«
Draußen in der Einfahrt knirschten Autoreifen, ein Motor wurde abgestellt, eine Autotür geöffnet und wieder zugeschlagen. Mum schien es nicht mitzubekommen, jedenfalls schenkte sie den Geräuschen keine Beachtung.
»Wir haben darüber gesprochen, ob wir aufgeben sollen. Nachdem ein volles halbes Jahr vergangen war.«
Was
wollten sie aufgeben? Er hatte keine Ahnung. Vielleicht das alles hier, Alex loslassen, sein Zimmer ausräumen. »Ein halbes Jahr, ein ganzes – im Grunde macht das keinen großen Unterschied.« Mum klang ruhig, sachlich. Sie schaute auf das Bett, als läge ihr Sohn dort, mit dem Kopf auf dem Kopfkissen, und fuhr fort: »Alsohaben wir zwei uns zu ihm gesetzt und die Sache durchgesprochen.«
Von unten hörte man einen Schlüssel, der sich im Schloss drehte, und das vertraute Knarren der verzogenen Haustür.
»Das wird er sein«, sagte sie. Einen schrecklichen Augenblick lang dachte er, Mum meinte »Alex«, aber dann begriff er, von wem sie sprach.
»Alex’ Vater?«, fragte er.
»Ed wäre rund um die Uhr dort, wenn man ihn ließe.« Sie setzte mit künstlichem Lachen hinzu: »Bestimmt hat er was mit einer von den
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