Crashkurs
Wohlstands. Dekadenz hielt immer mehr Einzug. Die reichen Kaufleute genossen lieber die Badehäuser und ihre Mätressen, anstatt sich um neue Geschäftsfelder zu kümmern, die römische Bevölkerung war gut versorgt und befasste sich lieber mit Freizeitbeschäftigung und Alltagstratsch anstatt mit harter, entbehrungsreicher Arbeit. »Brot und Spiele« war das Leitmotto des späten römischen Staates. Das Heer wurde ebenfalls immer träger und rieb sich in Scharmützeln in weit entfernten Regionen der damaligen Welt auf. Schließlich kamen neue Völker, die, angestachelt von dem Wohlstand der Römer, den unbedingten Willen zum Erfolg hatten. Sie waren bereit, Entbehrung und harte Arbeit auf sich zu nehmen, um sich den Reichtum Roms zu holen. Als dann die Goten im Herzland des Römischen Reichs auftauchten, gab es kaum noch eine Gegenwehr des dekadenten und in sich selbst zerfallenden Römischen Reichs.
Die gleiche Entwicklung beobachten wir in unserer westlichen Welt. Spätestens seit der Industrialisierung im 19. Jahrhundert haben die Völker Amerikas und Europas mit harter Arbeit und Entbehrung eine Weltmacht aufgebaut (wenn man die westliche Welt insgesamt betrachtet). Man denke an die Entbehrungen unserer Vorfahren, die sechzehn Stunden am Tag in den Fabriken und Bergwerken geschuftet haben. An die unsagbaren Entbehrungen und Strapazen der Besiedlung Nordamerikas. An die Zeit des Goldrauschs und den Aufbau der Vereinigten Staaten, wie wir sie heute kennen. Selbst in der jüngeren Vergangenheit waren die Menschen zu unglaublichen Anstrengungen bereit. Denken Sie an die Bilder der Trümmerfrauen nach dem Zweiten Weltkrieg und an die Freude, mit der die Menschen im Aufschwung der fünfziger und sechziger Jahre in die Fabriken fuhren und gerne bereit waren, für ein bisschen mehr Lebensqualität – vielleicht sogar mal einen Urlaub in Italien – zehn oder zwölf Stunden am Tag zu arbeiten.
Doch was ist daraus geworden? Gesellschaftlich befinden wir uns in der Spätphase des Römischen Reichs. Kaum noch jemand ist bereit, Leistung zu erbringen. Die Forderung nach einer Achtunddreißig- oder gar Vierzigstundenwoche wird mit Massenstreiks und größter Empörung quittiert. Die Ansprüche an den Staat werden immer größer. Und dabei waren in allen früheren Phasen unseres westlichen Systems fünfzig bis sechzig Arbeitsstunden die Woche absolute Normalität und sogar eher als wenig angesehen.
Was für die Römer Gladiatorenkämpfe zur Unterhaltung und Ruhigstellung der Bevölkerung waren, sind für uns heute der Big-Brother -Container und die Fußballarena. Die Frage, die sich durch viele Büros und Fabriken zieht, ist nicht die nach den beruflichen Notwendigkeiten oder »Wie kann ich die Firma weiter bringen?«, sondern sie lautet: »Was mache ich heute Abend? Wo gehen wir essen, wohin fliegen wir dieses Halbjahr in den Urlaub? Kauf ich mir als Nächstes ein Nokia- oder ein Samsung-Handy?« Kurzum, wir haben einen ähnlich dekadenten Status erreicht wie die Römer zu Beginn ihres Untergangs. Das ist kein Vorwurf, sondern die Feststellung einer völlig normalen Entwicklung. Wenn es dem Menschen gutgeht, wird er träger und bequemer. Das ist nun einmal so.
Aber wir sind ja nicht alleine auf dieser Welt; es gibt viele Völker, die nicht in unserem Wohlstand leben. Und diese Völker erheben sich gerade. Sie sind wie wir vor 200 Jahren bereit, Entbehrungen auf sich zu nehmen. Angestachelt von dem Wohlstand, den wir ihnen vorleben. Diese Völker besitzen die gleichen – wenn nicht bessere – Voraussetzungen wie wir. Denken Sie an die Chinesen. Ein geniales, strebsames Volk mit unbedingter Disziplin und Leistungsbereitschaft. Die Chinesen haben bereits Schießpulver verwendet, als unsere Vorfahren noch mit Speeren aufeinander losgegangen sind. Glücklicherweise sind sie sich damals nicht begegnet.
Seit der Öffnung Chinas Ende der achtziger Jahre ist der chinesische Drache, der Jahrhunderte geschlafen hatte, erwacht. Erst hat er müde ein Augenlid gehoben, sich dann langsam geräkelt, und jetzt beginnt er gerade aufzustehen. Die wenigsten Menschen machen sich zur Zeit eine Vorstellung von der wahren Dimension dieses Erwachens. Ein 200 Jahre altes geflügeltes Wort von Napoleon besagt: »Wenn der chinesische Drache erwacht, dann erbebt die Welt.«
Die chinesischen Arbeiter fragen heute nicht nach einer Achtunddreißigstundenwoche. Hier ist die Sechzigstundenwoche völlig normal. Bis zum Jahr 2020 plant China 97 neue
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