Crashkurs
einer eigenen Nation, sondern auch deren sagenhafter wirtschaftlicher Aufschwung. »New Frontier« war das Schlagwort einer neuen Nation. Immer wieder die Grenzen verschieben. Immer weiter nach Westen, danach immer weiter ins All, und immer weiter im Streben nach Wohlstand. So gelang es durch Leistungswillen und Motivation, das alte Europa abzuhängen und eine neue, ja sogar die Weltmacht zu schaffen. Europa blieb wie einst den Römern nichts anderes übrig, als dieser Entwicklung staunend zuzusehen. Die Bequemlichkeit und die eingefahrenen Strukturen in Europa erlaubten es gar nicht, mit der Entwicklung in Amerika mitzuhalten. Die daraus resultierende militärische Überlegenheit klärte dann binnen zweier Weltkriege die Machtverhältnisse endgültig.
Doch es kam, wie es kommen musste. Auch für die Vereinigten Staaten gelten die Naturgesetze, und auch die menschliche Natur gilt für alle Völker und Staaten. Mit all ihren Stärken und all ihren Schwächen. Und so, wie es eine Stärke ist, unbedingten Leistungswillen und erstaunliche Selbstaufopferung aufbringen zu können, wenn man seine vermeintlich schlechte Situation verbessern will, ist es eine Schwäche, dass der Mensch recht schnell das Genießen anfängt, wenn er die Schwelle zum Wohlstand überschritten hat. Denn wenn man nicht ständig um das Existenzminimum kämpfen muss, möchte man sein Glück ja auch mal genießen. Das beginnt ganz harmlos, indem man mal nicht zwölf Stunden am Tag arbeitet, sondern schon mal nach zehn Stunden den Hammer weglegt. Und je weiter der Wohlstand fortschreitet, umso mehr möchte man ihn genießen. Was im Übrigen vollkommen normal und richtig ist, denn das ist die Natur des Menschen. Dann fängt er an, nicht nur über mehr Leistung nachzudenken, sondern er versucht, wieder etwas Tempo herauszunehmen. Gewerkschaften formieren sich. Arbeitszeitreduktion wird zum beherrschenden Thema. Urlaubstage werden eingeführt. Die Freizeitgestaltung nimmt immer mehr Platz ein. An die Stelle des unbedingten Leistungswillens der Gründergenerationen tritt zunehmend die Genußkultur. Arbeit wird immer mehr zum lästigen Übel. Die Frage: »Wo schürfe ich als Nächstes nach Gold, welche Bäume muss ich fällen, um eine Blockhütte zu bauen?«, weicht der Frage: »Geh ich heute zum HSV oder lieber zum Barbecue bei Anke?« Wie gesagt: Das ist gut so. Der Mensch bekommt so die Möglichkeit, soziale Aspekte weiterzuentwickeln. Sich um Themen wie Umweltschutz, soziale Sicherungssysteme und Selbstverwirklichung zu kümmern. In Aufbauzeiten wie der Industrialisierung oder der Eroberung des amerikanischen Westens haben nur die wenigsten Menschen den Kopf frei für solche Dinge. Kunst oder Kultur beschränkten sich meist auf den Ausdruckstanz der Bardamen. Erst der Wohlstand und das verringerte Tempo geben genügend Freiraum für geistige und kulturelle Weiterentwicklung. Eine Oper kann nur entstehen, wenn die Leute auch die Freizeit und die Muße haben, sich das anzusehen. Das geht schlecht, wenn ich gerade mit einem Pfeil im Hut die Wagenburg gegen vierzig angreifende Sioux-Indianer verteidigen muss.
Also ist der Müßiggang eigentlich etwas sehr Positives und Erstrebenswertes, wenn ich erst mal über die Existenznot hinausgekommen bin. Er hat allerdings einen entscheidenden Nachteil: Nicht alle Menschen dieser Erde verfallen gleichzeitig in Müßiggang. Die Entwicklung der Weltbevölkerung läuft nicht im Gleichschritt ab. Das mag einerseits an geographischen oder ethnischen Besonderheiten liegen, die Hauptursache dürfte aber in der unterschiedlichen politischen Entwicklung der verschiedenen Regionen dieser Erde begründet sein. Das beste Beispiel dafür ist Korea. Schauen Sie sich an, welche drastischen Unterschiede in der Bevölkerung und ihrer Entwicklung zwischen Nord- und Südkorea entstanden sind. Bis 1948 war Korea ein gemeinsamer Staat mit gemeinsamer wirtschaftlicher und kultureller Entwicklung, wenngleich das Land seit 1910 von Japan annektiert war. Innerhalb der wenigen Jahrzehnte seit 1948 mit ihrer unterschiedlichen politischen Herrschaft entwickelte sich in Südkorea eine Kultur- und Wirtschaftsnation, die hinter Europa kaum zurückstehen muss. Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) liegt bei etwa 25 000 US-Dollar pro Einwohner und damit noch deutlich vor Portugal. Das BIP von Nordkorea liegt ungefähr bei einem Zwanzigstel davon etwa auf dem Niveau von Nepal. Und das nach nur etwa sechzig Jahren getrennter Entwicklung!
Aber wir brauchen
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