Crescendo
stellte ein Kurzporträt die tapfere Polizistin vor, die unter Einsatz ihres Lebens den Lockvogel gespielt hatte, um den Vergewaltiger zu fassen. Nightingale starrte auf ihr Foto und schloss entsetzt die Augen.
Sie hatten aus ihr eine Heldin gemacht. Der Journalist schilderte ihre Rolle bei Griffiths’ Verhaftung. Er hatte nicht übertrieben, aber das wäre auch nicht nötig gewesen, weil die Einzelheiten an sich schon dramatisch genug waren. Dann erwähnte er zwei frühere Fälle, in denen sie sich ebenfalls »ungemein tapfer« verhalten hatte, und schrieb: »Dieser Mut ist typisch für Sergeant Nightingale. Hinter ihrer kühlen Schönheit schlägt ein unerschrockenes Herz …«
Sie schauderte. Wieso machte ein Journalist sich die Mühe, ihre kurze Laufbahn zu recherchieren? Sie blickte auf den Namen, der über dem Artikel abgedruckt war: Jason MacDonald. Tja, das erklärte alles. Sie hatte ihn mal festgenommen, als er versucht hatte, einer Frau, zu deren Schutz sie abgestellt gewesen war, eine Exklusivstory zu entlocken. Das war drei Jahre her, aber er hatte schon damals auf sie den Eindruck gemacht, dass er ganz schön nachtragend sein konnte. So positiv die Berichterstattung dem Schein nach war, er hatte genau gewusst, dass er damit ihre Vorgesetzten empören und ihre Kollegen befremden würde. Inspector Blite und Superintendent Quinlan wurden nur beiläufig erwähnt. Geschickt hatte er den Eindruck erweckt, als wäre der Fall, bei dem manche Panne passiert war, nur durch ihre Tapferkeit endlich aufgeklärt worden. Nightingale blickte in Blites wütendes Gesicht.
»Ich habe keinen Schimmer, woher er das alles hat, Sir. Ich habe kein Interview gegeben.«
»Und das soll ich Ihnen glauben? Ihr PR-Agent hat anscheinend Überstunden gemacht!«
Nightingale biss sich auf die Zunge. Einwände brachten nichts. Wenn es im Präsidium eine undichte Stelle gab, dann war sie es jedenfalls nicht.
»Ihr Verhalten war unprofessionell, nahezu schändlich. Das wird sich zwangsläufig auf Ihre Karriere auswirken. Sie müssen mit Konsequenzen rechnen.«
Seine Stimme war schneidend, aber Nightingale war nicht so leicht zu beeindrucken und legte auf seine Meinung ohnehin keinen großen Wert.
»Ich werde persönlich für einen Vermerk in Ihrer Akte sorgen, darauf können Sie sich verlassen …«
»Würden Sie uns bitte allein lassen, Sergeant Nightingale?« Sie blickte sich um und sah Superintendent Quinlan in der offenen Tür stehen. Blites laute Stimme musste über den ganzen Flur hinweg zu hören gewesen sein. »Und schließen Sie die Tür hinter sich.«
Als sie irgendwann später zum Superintendent gebeten wurde, hatte Nightingale sich bereits allerlei Kommentare zu ihrer plötzlichen Berühmtheit anhören müssen. Die meisten Kollegen begnügten sich damit, sie aufzuziehen oder um ein Autogramm zu bitten, aber nicht wenige waren neidisch und verbreiteten schlechte Stimmung. Ihre Schultern waren angespannt, als sie an die Tür von Quinlans Büro klopfte.
»Kommen Sie herein, Louise.« Er blickte auf und lächelte sie an. »Setzen Sie sich.«
Er musterte sie schweigend. Eine Ader klopfte an ihrer rechten Schläfe. Obwohl sie seinen Blick unbefangen erwiderte, sah sie jung und unglücklich aus. Die Beamtin vor ihm war erst siebenundzwanzig. Sie hatte sich nicht durch besondere schulische Leistungen ausgezeichnet, mit Mühe und Not das College geschafft, bevor sie zur Polizei ging, aber er hatte keinen Zweifel, dass sie etwas Besonderes war. Doch sie hielt mit irgendetwas hinterm Berg, ganz absichtlich, und diese Geheimhaltung behagte ihm nicht. Fenwick war genauso. Er hatte Tiefen, die wohl noch niemand ergründet hatte, wie Quinlan vermutete. Ein Jammer, dass er nach so langer Zeit noch immer keine nette Frau gefunden hatte. Er riss sich aus seinen Gedanken und konzentrierte sich wieder auf Nightingale.
»Sie werden keinen Aktenvermerk bekommen, da Sie nichts falsch gemacht haben.«
»Danke, Sir.«
»Allerdings«, er sah, wie sich ihre Kinnpartie anspannte, als befürchte sie einen Schlag, »hat der Fall Ihnen und daher auch der Abteilung eine Aufmerksamkeit eingebracht, die nicht gerade dienlich ist. Die Presse beschäftigt sich gerne mit Einzelschicksalen, und Sie sollten damit rechnen, dass das Medieninteresse noch eine ganze Weile anhält.«
»Ich bin sicher, mein Ruhm ist kurzlebig und morgen schon vergessen.«
Quinlan betrachtete das fein geschnittene Gesicht, das, wie sie jetzt wussten, bei den Fotografen
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