Crescendo
ihre Eltern sie ins Internat, von dem sie irgendwann verwiesen wurde.
»Nimm’s mir nicht übel«, Simons Stimme holte sie in die Gegenwart zurück, »aber du siehst müde aus.«
»Danke.«
»Vergiss, was ich gesagt habe. Komm, trink was – wir haben beide ausnahmsweise mal keinen Dienst.«
Simon hatte sich verändert, seit er mit Naomi verheiratet war. Der rüpelhafte Junge, mit dem sie aufgewachsen war, der Liebling ihrer Mutter, der zu einem gemeinen Scheusal verwöhnt worden war, noch ehe er in die Schule kam, war nur noch eine blasse Erinnerung. Sie waren sich völlig fremd geworden, als sie mit dem Internat fertig war – genauer gesagt, als das Internat mit ihr fertig war. Als er nach dem Studium zurückkam, zum Entsetzen ihrer Mutter bereits mit Naomi verlobt, war aus ihm ein freundlicher, Rugby spielender, extrovertierter junger Mann geworden, mit dem sie sich überraschend gut verstand. Naomi arbeitete unablässig daran, dass die Zuneigung zwischen den Geschwistern nicht erlosch, was Simon und Nightingale immer wieder amüsierte.
Um sechs Uhr saßen sie noch immer am Esstisch. Naomi ging Tee kochen und ließ die Geschwister allein. Simon hatte mehr getrunken als sonst und sprach mit schonungsloser Offenheit.
»Du bist zu dünn, weißt du, Di…«
»Louise.«
»Tschuldigung, kommt vom Alkohol. Du könntest gut und gern zehn Pfund mehr vertragen.«
»Du redest schon genau wie Vater.« Simon verzog das Gesicht. »Hör mal, ich hab ein hartes Jahr hinter mir, und ich glaube nicht, dass es leichter wird. Der Superintendent will mich versetzen.«
»Ist das so schlimm? Bist du in Harlden denn wirklich zufrieden? Ich hätte gedacht, du wärst froh über eine Veränderung, solange du jung und ungebunden bist.«
Sie antwortete nicht. Wie sollte sie ihm erklären, dass genau das Gegenteil der Fall war, dass sie sehr wohl gebunden war, an einen Mann, der kaum Notiz von ihr nahm, und dass sie sich schon jetzt alt fühlte?
»Was hast du eben gedacht? Du hast richtig traurig ausgesehen.«
»Nun lass sie doch, Simon, merkst du denn nicht, wenn eine Frau verliebt ist?« Naomi stellte eine Tasse Tee vor Nightingale hin, bemerkte ihr weißes Gesicht und wechselte rasch das Thema. »Habt ihr schon über Mill Farm gesprochen?«
»Ist was passiert? Alles in Ordnung mit dem Haus?« Nigh tingale blickte die beiden besorgt an.
»Ja, alles in Ordnung. Ziemlich heruntergekommen, weil Dad nichts mehr dran gemacht hat, aber es steht noch, halbwegs.« Simon tat mehr Zucker in seinen Tee, als in mehreren Jahren gut für ihn gewesen wäre. »Wir möchten, dass du es kriegst.«
Nightingale war sprachlos.
»Wir brauchen keine zwei Häuser«, erklärte Naomi, »und wir haben beide das Gefühl, dass deine Eltern es dir hätten vermachen sollen, nicht uns.«
»Sie haben mir ein regelmäßiges Einkommen hinterlassen. Kapital auf einem Treuhandkonto, und ich kassier die Zinsen. Ich gebe das Geld, das ich jeden Monat kriege, nur selten aus.«
»Mag ja sein, aber wir finden trotzdem, dass es unfair war, nicht wahr, Simon?«
Ihr Mann nickte mit Nachdruck.
»Erzkonservativ. Es ärgert mich noch immer, wenn ich bedenke …«
»Aber mich nicht. Es ist sehr lieb von euch, aber ihr solltet euch nicht verpflichtet fühlen, ihre Entscheidung abzuändern.«
»Wir fühlen uns nicht verpflichtet. Du würdest uns einen Gefallen tun. Ein altes, baufälliges Haus im tiefsten Devon ist nichts für uns, du dagegen warst immer sehr gern da.«
Die Vorstellung war verlockend. Es störte sie nicht, dass das Haus fast zusammenbrach. Es war der einzige Ort ihrer Kindheit, wo sie richtig glücklich gewesen war.
»Wir haben die Papiere schon aufsetzen lassen. Es ist eine Schenkung, deshalb fallen auch keine Steuern an, wenn wir lange genug leben. Ich hol mal die Unterlagen.«
Naomi blickte ihrem Mann nach, als er den Raum verließ.
»Bitte, er möchte, dass es dir gehört. Er hat ein schlechtes Gewissen, weil wir so viel geerbt haben. Du kannst sagen, was du willst, fair war es nicht.«
»Aber auch nicht völlig überraschend. Sie hatten mich ja praktisch enterbt. Ich glaube, als Tante Ruth starb und Mill Farm meinem Vater vermachte, hat sie gehofft, dass es irgendwann an mich geht, aber ich habe nicht damit gerechnet. Simon und ich sind in dem Haus zur Welt gekommen, weißt du, und das bedeutete, dass ich keine Chance hatte. Mutter wäre sehr unglücklich darüber, wenn Simon es an mich weitergäbe.«
»Im Testament gibt es keine Klausel,
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