Crescendo
Sonnenlicht spiegelte sie sich in der Scheibe, und sie musste sich vorbeugen, um die Kleider sehen zu können.
Als sie wieder zurücktrat, bemerkte sie das Spiegelbild einer Frau, die auf der anderen Straßenseite stand. Sie hatte nichts Auffälliges an sich, aber irgendwas an der Art, wie sie dastand, machte Wendy misstrauisch. Unter dem Vorwand, sich das Schaufenster weiter anzusehen, betrachtete sie das Spiegelbild der Frau, prägte sich das Gesicht und die Kleidung ein. Sie ging ein paar Schritte die Straße hinunter und blieb vor einem anderen Schaufenster stehen. Die Frau überquerte die Straße und folgte ihr. Als Wendy stehen blieb, tat sie es auch, bückte sich, um sich die Turnschuhe zuzubinden, die gar nicht offen gewesen waren.
Wendys Instinkte, durch jahrelangen Missbrauch und Ü berlebenskampf geschärft, signalisierten Alarm. Sie hatte nichts Unrechtes getan, aber das machte sie nicht sorglos.
Nicht weit von der Stelle, wo sie ihr Auto geparkt hatte, war ein kleiner Supermarkt. Wendy beschleunigte ihren Schritt, schaute auf die Uhr, als habe sie es eilig, und hastete zu dem Laden. Drinnen ging sie bis ganz hinten zur Kühltheke und nahm die Schinkenpackungen in Augenschein. Die Frau folgte ihr nicht, sondern blieb draußen auf dem Bürgersteig. Als sie sich einmal abwandte, huschte Wendy zum Hinterausgang hinaus.
Niemand hielt sie auf. Draußen war ein Hof mit einem Tor, das auf die Straße führte. Sie stieß es auf und stand auf einer ihr unbekannten Straße mit Reihenhäusern. Ihr Herz raste. Sie war kurz davor, in Panik zu geraten, und zwang sich, tief durchzuatmen und nachzudenken. Sie rief sich die Vorderseite des Supermarktes in Erinnerung, die Straßen, die sie kannte, und die Stelle, wo ihr Auto stand. Sie musste rechts runter gehen und dann noch einmal nach rechts.
Der Wagen war da, wo sie ihn geparkt hatte, ein hellblauer, dreitüriger Peugeot, dem man sein Alter allmählich ansah. Ihre Hände zitterten so heftig, dass sie Probleme hatte, den Schlüssel ins Zündschloss zu stecken. Beim dritten Versuch glitt er hinein, und der Motor sprang sofort an.
Sie warf einen Blick in den Rückspiegel und fuhr los. Erst als sie Birmingham hinter sich gelassen hatte, wurde ihr klar, dass sie doch einfach hätte aufgeben können. Diese Formulierung überraschte sie, aber sie schien passend. Wenn sie die Frau einfach angesprochen hätte, wäre jetzt alles vorbei. Sie wüsste Bescheid, so oder so; vielleicht waren ihre Ängste nur die Folge einer überreizten Phantasie. Vielleicht quälte sie sich wegen nichts und wieder nichts. Ein Anruf bei der Polizei könnte alles klären. Sie hatte die Telefonnummer von Crimewatch auswendig gelernt, aber alle Männer in der Sendung hatten so streng und unnachgiebig ausgesehen. Wenn eine Frau zuständig gewesen wäre, hätte sie angerufen. Und selbst jetzt müsste sie eigentlich nur umkehren.
Wendy verpasste ihre Ausfahrt, nicht absichtlich, aber sie zischte vorbei, als sie gerade einen Lastwagen überholte. An der nächsten Raststätte hielt sie an und schaltete das Radio ein, einen Lokalsender mit viel Musik. Sie brauchte Ablenkung, damit sich ihre Gedanken nicht immer weiter überschlugen.
Sie hatte sich gerade einen Becher Kaffee geholt und trank ihn, als die Nachrichten kamen. Die Hauptmeldung war der Mord an einer jungen Frau in Telford. Wendy spürte, wie die Säure des Kaffees ihren Magen schockte, noch ehe sie seinen Namen hörte.
»Die Polizei bittet die Öffentlichkeit um Mithilfe bei der Fahndung nach David Smith. Er ist siebenundzwanzig Jahre alt, einen Meter dreiundachtzig groß, schlank und hat blaue Augen. Möglicherweise hat er Verletzungen an den Händen und im Gesicht. Sachdienliche Hinweise nimmt die Polizei in Telford entgegen …«
Die Stimme sprach weiter, aber Wendy hörte nicht mehr zu. Sie stand über einen Abfalleimer gebeugt und erbrach Galle und Kaffee.
»Fühlen Sie sich nicht gut?«
Ein freundlich aussehender Mann Mitte fünfzig stand neben ihr.
»Geht schon wieder.« Sie strich sich mit einer zitternden Hand übers Gesicht.
»Sie sehen aber gar nicht gut aus. Können Sie denn noch fahren? Ich könnte sie mitnehmen.«
»Nein, wirklich nicht. Im komme schon klar.«
Wendy ging zum Auto zurück, schüttelte die unerwünschten Aufmerksamkeiten des Mannes ab. Wahrscheinlich meinte er es nur gut, aber sie traute ihm nicht. Eigentlich traute sie niemandem. Sie versuchte, einen klaren Gedanken zu fassen. Dave hatte sie mitten in
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