Crescendo
Zaunes entlang, und rieb dabei das Handtuch über den Draht. Als er wieder am ersten Loch angekommen war, nahm er Anlauf und sprang mitten hinein in einen Abfallhaufen. Er landete auf einem Müllsack, der aufplatzte und saure Milch auf seine Wanderschuhe spritzen ließ, zusammen mit einer Ekel erregenden Masse, die verdächtig nach dem Inhalt einer Babywindel aussah. Normalerweise hätte er sich übergeben müssen, doch heute kam ihm das vor wie ein Geschenk Gottes.
Wieder machte er einen Satz, kam aber unglücklich auf, und ein jäher Schmerz schoss ihm vom Knöchel aufwärts ins Bein. Er achtete nicht darauf, riss den nächstbesten Müllsack auf und verteilte den Inhalt auf der Stelle, wo er gelandet war. Er war nicht ganz so übelriechend wie der erste, doch die fauligen Essensreste müssten ausreichen, um die Hunde zu verwirren. Er richtete sich auf, um einen weiteren Sprung zu versuchen, doch sein Bein tat zu weh, und so hüpfte er einfach vorwärts, dreimal, bis er ein gutes Stück von seinem zweiten Landeplatz entfernt war.
Rasch hatte er seine eigenen Müllsäcke geöffnet und rollte sich in sie ein, bevor er sich in einen weichen, stinkenden Abfallhaufen eingrub. Das Hundegebell wurde lauter, als sie durch die Zaunöffnung kamen. Durch die dämpfenden Müllschichten hindurch hörte er schwach die Hunde und die Rufe der Hundeführer, die überlegten, was sie machen sollten. Wenn er ein bisschen Glück hatte, würden sie die Müllhalde nicht mal durchsuchen. Er wartete in seiner schützenden Hül le und vernahm alles wie unter Watte. Nach einer halben E wigkeit hörte er das Rascheln von Plastiksäcken und das unverkennbare Geräusch eines schnüffelnden Hundes.
Er drückte die Ränder der beiden Säcke fester zusammen. Das Blut rauschte ihm so laut in den Ohren, dass er fest davon überzeugt war, die empfindlichen Ohren des Hundes müssten es wahrnehmen. Mit purer Willenskraft verlangsamte er seinen Herzschlag und kontrollierte seine Atmung, sodass sie ganz leise wurde.
Plötzlich war ein Rascheln ganz in seiner Nähe zu hören, und er erstarrte. Es war so nah, dass der Abfallberg, auf dem er lag, bebte. Das Geräusch wurde lauter, und er spürte etwas Schweres dicht neben sich. Er konnte kaum atmen. Die Luft in den Säcken war beinahe aufgebraucht, seine Brust hob und senkte sich, und seine Nase drückte gegen das Plastik, das ganz feucht von Kondenswasser war. Die Klaustrophobie, die ihn seit seiner Kindheit immer wieder befiel, drohte ihn zu überwältigen. Fast wäre er aus den Säcken gesprungen, doch in diesem Moment ertönte in einiger Entfernung ein Ruf, das, was da über ihm war, bewegte sich weg und ließ ihn zitternd in seinem eigenen Schweiß liegen.
Offenbar hatten sie die Baseballmütze gefunden, die er in das Dickicht geworfen hatte. Er zählte bis dreißig, dann öffnete er die Säcke einen Spalt, damit er wieder Luft bekam. Sein Gesicht war jetzt nass, und er wusste nicht, ob von Blut, Schweiß oder Tränen. Er leckte sich den salzigen Geschmack von den Lippen und unterdrückte ein Schluchzen der Erleichterung.
Er blieb lange liegen, erschöpft und mit Schmerzen am ganzen Körper. Irgendwann musste er wohl eingeschlafen sein, denn er erwachte verwirrt und verstört von einem Traum, in dem er lebendig begraben worden war. Angst war eine ganz neue Empfindung für ihn, und ihre lähmende Macht schockierte ihn. In der stinkenden Dunkelheit der Müllhalde tastete er nach seinem Rucksack und der Wasserflasche, die er stets darin aufbewahrte. Als er einen Träger von der Schulter schob, stieß er mit der Hand an seinen Hals und schrie vor Schmerz auf. Er berührte vorsichtig die verletzte Haut. Sie fühlte sich heiß und klebrig an. Als er an seinen Fingern schnüffelte, war da ein leicht eitriger Geruch, der ihm zu denken gab. Er war noch nie verletzt worden.
Ein kräftiger Schluck Wasser belebte ihn, und seine Überlebensinstinkte meldeten sich wieder. Er musste hier weg. Wenn die Polizei ihn bei der groß angelegten Suche nicht fand, würden sie vielleicht zur Müllhalde zurückkehren. Es war absolut nichts zu hören, deshalb wagte er es, sich ein wenig aufzurichten, bis er den Himmel sehen konnte. Er blickte auf die Uhr, fast neun. Es war zwar noch nicht ganz dunkel, aber er konnte nicht hier liegen bleiben und abwarten, bis sie möglicherweise zurückkamen.
Vorsichtig schob er die Säcke auseinander, verharrte lauschend und ging dann langsam in die Hocke. Hinter der Umzäunung suchten
Weitere Kostenlose Bücher