Crescendo
irgendein Hindernis auf seinem unaufhaltsamen Weg in die kalte Tiefe des Sees. Sein Vater war so blöd gewesen, ausgerechnet an einer Stelle reinzufahren, wo das Ufer nur schwach geneigt war. Selbst mit gelösten Bremsen, und wie hatte seine Mutter an der Handbremse gezogen, bis ihr Mann ihr die Hand weggerissen hatte, ging es im Schne ckentempo abwärts. Hätte er an Gott oder irgendein allmächtiges Wesen geglaubt, er hätte ein Dankgebet gesprochen. So jedoch lächelte er nur gequält darüber, dass es dem Schicksal offenbar gefiel, ihn immer wieder an seine Grenzen zu führen.
Die Klinge verbog sich, und er klappte die Schere aus. Sie kam ihm zu klein vor, und einen Moment lang wurde er unsicher. Dann riss er sich zusammen und setzte die Stahlklingen in einem der Löcher an. Zu seiner Verblüffung gelang es ihm im Nu, den Stoff zu durchtrennen. Das nächste Stück gab schnell nach. Das dritte bot mehr Widerstand, aber er machte unermüdlich weiter.
Es herrschte Stille im Auto. Seit dem letzten Ruck nach vorn musste seine Mutter den Mund geschlossen halten. Sein Vater, größer, den Rücken durchgestreckt, starrte geradeaus. Dave registrierte diese entsetzliche Grabesstille und sah kurz von seiner Arbeit auf. Genau im selben Moment, als hätte er seinen Blick gespürt, drehte sein Vater sich um und schaute über die Schulter nach hinten. Dave war schockiert, als er Tränen in seinen Augen und einen mitleidigen Ausdruck sah, keine Spur von Wut. Sein Vater wandte sich seiner Frau zu, die lautlos um ihr Leben rang, und lächelte ein liebevolles, trauriges Lächeln.
»Es ist besser so, Liebste.« Dann blickte er wieder geradeaus und senkte den Kopf ins Wasser.
Jahre später hatte er mal einen Artikel von irgendeinem schlauen Professor gelesen, der behauptete, dass es einem Menschen unmöglich sei, sich selbst zu ertränken. Wortreich wurde da erklärt, dass die meisten Selbstmörder, die von einer Klippe oder Brücke sprangen, durch den Aufprall aufs Wasser das Bewusstsein verloren und dann ertranken. Der Professor war überzeugt, dass der Überlebensinstinkt den motorischen Funktionen innewohnte, sodass selbst jemand, der sterben wollte, nach Atem ringen würde, sobald sein Kopf unter Wasser war, dass die Lungen nach Sauerstoff schreien und die Muskeln bis zur Erschöpfung kämpfen würden, um wieder an Luft zu kommen.
Der Artikel war überzeugend. Dave wusste, dass er falsch war. Sein Vater hatte den Kopf ohne den geringsten Widerstand ins Wasser gesenkt. Ein paar Mal hatte sein Körper gebebt, und zwar, wie Dave bis heute überzeugt war, weil er absichtlich Wasser eingesogen hatte, die Hände hatten sich leicht bewegt, aber es war kein wildes Schlagen gewesen, dann wieder Stille. Fasziniert hatte er einen Moment zugesehen, doch dann rutschte der Wagen erneut ein Stück, und er hatte die Augen wieder gesenkt, um das letzte Stückchen des Sicherheitsgurtes durchzuschneiden. Irgendwann war sein Vater gestorben, aber Dave hatte den Augenblick verpasst, weil er mit seinem eigenen Überleben beschäftigt war.
Als der Gurt endlich nachgab, atmeten er und seine Mutter schon die letzten dreißig Zentimeter Luft im Wagen ein. Das Dach kam bedrohlich näher. Dave schwebte vom Sitz hoch, als er sich befreit hatte, und versuchte, die Tür zu öffnen. Sie ließ sich nicht bewegen.
Zuerst war er in Panik geraten, aber dann erinnerte er sich an den Physikunterricht und die Gesetze von Atmosphäre und Druck. Es lag zu viel Wassergewicht auf der Tür. Um zu entkommen, musste er das Fenster öffnen, damit der Wagen vollständig geflutet wurde, und dann konnte er rausschwimmen. Seine Mutter würde natürlich ertrinken. Er schaute zu ihr hinüber, sah die hilflose Panik in ihren Augen und verachtete sie für ihre Schwäche. Sie war schon immer das willige Opfer gewesen. Selbst wenn sein Vater sie geschlagen hatte, was nicht sehr häufig und nicht sehr heftig gewesen war, hatte sie diese leidenden Augen auf sie beide gerichtet und dann weiter das Essen gekocht. Sie hatte ihm nie gezeigt, dass sie ihn liebte, selbst als er noch ganz klein gewesen war und noch immer unter den Folgen seiner problematischen Geburt gelitten hatte. Mit einem Gefühl der Befreiung wurde ihm bewusst, dass er sie hasste.
Jetzt starrte sie ihn an, flehte um Hilfe. Es war erhebend. Er konnte der mächtigsten Frau in seinem Leben, dem Brennpunkt seiner Phobien und Phantasien, das Leben schenken oder sie dem Tod überlassen. Ihre Augen bettelten jetzt um
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