Crescendo
vergessen, es zurückzuzahlen.« Sein Tonfall machte deutlich, dass diese Darstellung sehr nachsichtig war.
»Ach so, alles klar. So Frauen gibt’s. Pech.«
Er wandte sich wieder seiner Arbeit zu und hielt die Augen auf das Glas gerichtet, das er gründlich polierte, nicht auf Smiths Gesicht.
»Vielleicht ist sie schon mal hier gewesen. Groß, dunkelhaarig, manche würden sagen gut aussehend. Nicht aus der Gegend.«
»Davon gibt’s viele, Mister. Wenn Sie ein Foto hätten, könnte ich Ihnen vielleicht helfen.«
»Klar.« Er zog sein Portemonnaie hervor und faltete den Zeitungsausschnitt auseinander. »Das ist ein gutes Bild. Besser als jeder Schnappschuss, den ich je gemacht hab.«
Der Wirt nahm es und erstarrte. Smith versuchte, seine leicht verärgerte Miene beizubehalten, aber es fiel ihm schwer, den Bissen hinunterzuschlucken, den er gerade im Mund hatte.
»Schon mal gesehen?«
»Ja. Sie hat die Haare jetzt länger, aber das Gesicht ist unverwechselbar. Sie war einmal hier, vor einem Monat oder so.«
»Und trotzdem erinnern Sie sich noch an sie?«
Der Wirt antwortete nicht gleich. Smith hätte ihn am liebsten angeschrieen und geschüttelt, doch stattdessen trank er einen kleinen Schluck Bier.
»Wer hier im Ort würde das nicht?«
»Was hat sie denn angestellt?«
»Nicht sie, die Nightingales. Guter Name, ein Jammer, was aus der Familie geworden ist.«
Der Wirt hielt inne, hatte anscheinend das Gefühl, schon genug gesagt zu haben. Smith zuckte die Achseln und hoffte, dass seine vermeintliche Gleichgültigkeit Ansporn genug war. Es klappte. Nach einer Weile konnte der Mann sich nicht mehr beherrschen und erklärte: »Die Nightingales haben seit Generationen hier gelebt. Sie hatten Landbesitz und betrieben die Mühle, aber dann ging’s bergab. In den Siebzigern wurde viel gemunkelt, was da auf der Farm so alles vor sich ging, Sachen, die Sie bestimmt nicht Ihrer Mutter erzählen würden.« Smith dachte an seine tote Mutter und lächelte zustimmend. »Jedenfalls, als Mr und Mrs Nightingale weggingen, sind ihr Sohn und ihre Tochter auf der Farm geblieben, bis zu seiner Heirat. Und die beiden haben sich mit den falschen Leuten eingelassen.«
Smith konnte nicht länger warten: »Und diese Frau?«
»Tochter von einer von Nightingales Affären. Keine Frage. Sie trägt seinen Namen, aber sie ist ihrer verlotterten Mutter wie aus dem Gesicht geschnitten.«
Smith überging diese Neuigkeit. Ihn interessierte nur die Adresse. »Und die wohnten auf einer Farm, sagten Sie? Irgendwo in der Nähe?«
»Etwa acht Meilen. War mal eine Goldgrube, aber die Alte hat sie verkommen lassen, bevor sie sich umgebracht hat.« Er beugte sich verschwörerisch vor. »Obwohl sie dem Pfarrer eingeredet haben, es sei ein Unfall gewesen.« Wenn er nicht hinter seiner eigenen Bar gestanden hätte, er hätte ausgespuckt. »Von wegen.«
Bei einem zweiten Bier fragte Smith den Mann, wie er am besten zur Farm käme. Er trank langsam, weil er wusste, dass er einen klaren Kopf behalten musste. Er beschloss zu warten, bis es dunkel war, und dann zu Fuß zu gehen. Der Wegbeschreibung nach zu urteilen, würde er mit dem Auto fast genauso lange brauchen, und er glaubte ohnehin nicht, dass er das noch einmal durchstehen könnte. Er würde zwei Stunden brauchen, vielleicht drei. Und dann würde sie sterben.
Kapitel zweiunddreißig
Mrs Ironstrong führte ein anständiges Haus, und das schloss mit ein, dass ihre Gäste pünktlich zum Essen erschienen. Sie hatte sich darauf eingestellt, dem jungen Paar gegenüber Nachsicht walten zu lassen, weil er ja einen Unfall gehabt hatte, aber als der Abend kam, war sie mit ihrer Geduld am Ende. Er mochte ja rekonvaleszent sein, wie »seine Frau« behauptet hatte, und so übel, wie sein Gesicht aussah, war das durchaus glaubhaft, aber als er heute Morgen das Haus verlassen hatte, war er putzmunter gewesen. Sogar sein Humpeln hatte unecht gewirkt.
Jetzt war es Viertel vor acht. Das Abendessen wurde von halb sieben bis acht serviert, aber da der Speiseraum um Punkt acht Uhr dreißig geschlossen wurde, herrschte zwischen ihr und ihren Gästen das stillschweigende Übereinkommen, dass die letzten Bestellungen vor acht Uhr erfolgten. Alle anderen saßen an ihren gedeckten Tischen, gehorsam und dankbar. Nur nicht »Mr und Mrs« Wilmslow. Sie atmete tief durch, reckte den stattlichen Busen und marschierte den Gang hinunter zum hinteren Gästezimmer. Ihr kurzes, kräftiges Klopfen blieb ohne Antwort. Der
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