Crescendo
offensichtliche Nebenaspekte eines Falles haarklein untersucht werden. Und Professor Ball hat Ihren ausgeprägten ›empathischen Instinkt‹ betont – gucken Sie nicht so böse, das hat sie gesagt, nicht ich. Ob Ihnen das nun gefällt oder nicht, Sie sind anders. Sie kombinieren Intellekt und Intuition. Das ist ungewöhnlich, und es ist auch beunruhigend, zumal Sie nicht den geringsten Hehl daraus machen. Die meisten klugen Menschen wissen, dass sie nicht zu clever wirken dürfen. Ihnen scheint das völlig egal zu sein.«
Fenwick tat das, was er immer tat, wenn ihm die Worte fehlten, nämlich unverbindlich die Achseln zucken. Er tat so, als suche er eine Flasche Wasser, und konzentrierte sich dann darauf, den komplizierten Sportscap-Verschluss aufzubekom-men. MacIntyre ließ sich nichts vormachen.
»Was meinen Sie eigentlich, warum Sie noch immer Chief Inspector sind? Ich bin in Ihrem Alter, und ich bin Superintendent, und das nicht unbedingt, weil ich besser bin als Sie.
Warum hat es bei Ihnen nicht geklappt?«
Nochmaliges Achselzucken. »Hat sich einfach nicht ergeben.«
Er sah sich um, hielt sehnsüchtig nach dem Fahrer Ausschau.
»Das kauf ich Ihnen nicht ab. So viel fehlender Ehrgeiz ist unglaubwürdig.«
506
Fenwick holte tief Luft und versuchte, seinen Tonfall zu beherrschen.
»In der Zeit, als ich an meine Karriere hätte denken sollen, standen für mich andere Dinge im Vordergrund.«
»Sie meinen die Krankheit Ihrer Frau. Ja, das habe ich in Ihrer Personalakte gelesen. Damals mag das ein vernünftiger Grund gewesen sein, aber jetzt nicht mehr. Da muss mehr dahinter stecken.«
Fenwick spürte eine Ader am Hals pochen. Vielleicht war der Mann absichtlich so provokant, aber er war nicht in der Stimmung, sich darauf einzulassen. Ja, er verlor schnell die Geduld. Ja, er hatte mehr als einmal deutlich gemacht, dass Harper-Brown ein Idiot war, aber die Zeiten waren vorbei.
Er redete sich ein, dass er Zurückhaltung gelernt hatte. Und gerade gegenüber diesem neugierigen Arschloch würde er sich nicht selbst das Gegenteil beweisen.
MacIntyres Telefon klingelte und ersparte ihm eine Fortführung der Unterhaltung. Der Fahrer kam zurück, und während der Weiterfahrt schwiegen sie. Fenwick schlief ein.
In seinem Traum sah er, wie Ginny sich ein Bad einlaufen ließ und dann in den Schaum hineinglitt. Er war draußen vor dem Badezimmerfenster und konnte alles sehen. Dann änderte sich das Bild. Jetzt war er hinter Smith, der die Treppe hinaufschlich. Fenwick wollte ihn festhalten, doch Smith schüttelte ihn ab, als wäre er substanzlos wie ein Geist.
Ginny trocknete sich jetzt ab. Er konnte sie sehen, obwohl die Tür fast geschlossen war. Als sie sich umdrehte und Smith erblickte, öffnete sich ihr Mund zu einem stummen Schrei, aber sie versuchte nicht zu fliehen. Stattdessen hob sie etwas auf, das er nicht erkennen konnte, und ging auf ihn zu. Sie war die Angreiferin und lächelte jetzt. Smith wollte weglaufen. Ginny warf sich auf ihn. Ihre Hand mit der unsichtbaren 507
Waffe hob und senkte sich, fügte dem Mann unter ihr grässliche Verletzungen zu. Warmes Blut schoss im Bogen hervor und spritzte in einem dickflüssigen, kirschroten Strahl in Fenwicks Gesicht. Er bekam Panik und wollte es wegwi-schen, da erwachte er.
Wieder einmal fegte ein Sommerregen über sie hinweg.
Durch das offene Fenster fielen ihm Tropfen aufs Gesicht.
Verstört und desorientiert kurbelte er die Scheibe hoch. MacIntyre telefonierte noch immer. Der Traum hatte Fenwick durcheinander gebracht. Er starrte die Wassertropfen auf der Fensterscheibe an und suchte in den Bildern nach einer Bedeutung, aber sie entzog sich ihm.
Schließlich nahm er die Fotos vom Tatort aus seiner Aktentasche, obwohl ihm vom Schaukeln und Schwanken des Wagens leicht übel war. Es waren so viele Fotos. Er sah sie durch, bis eine Nahaufnahme von Ginnys Hand, die eine Glasscherbe umklammert hielt, seine Aufmerksamkeit fesselte.
Die scharfen Kanten hatten ihr in die Handfläche und die Innenseite der Fingerknöchel geschnitten, aber sie hatte sie festgehalten, trotz des Schmerzes.
Blut war ihr übers Handgelenk gelaufen. Die Scherbe war voll davon. Fenwick sah sich das Foto erneut an, und auf einmal wurde sein Kopf wieder klar. Unerwartete Tränen traten ihm in die Augen, und er blinzelte sie weg. Sie hatte sich gewehrt, diese tapfere, kleine Achtzehnjährige. Sie hatte getreten und gekratzt und geschrieen. Und sie hatte ihn mit der Scherbe verletzt.
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